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Samstag, 5. November 2005
Gelesen

Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch
Tja, soll man nicht machen: das kleine Bändchen aus der SZ-Bibliothek kaufen, nur weil es da gerade rumliegt und fast nichts kostet und man schon immer mal was von Canetti lesen wollte. Es kommt mir ein bisschen anmaßend vor, so was über einen Nobelpreisträger zu schreiben, aber ich finde es bestenfalls „nett“. Böser formuliert könnte man auch sagen: öde und betulich.
Canetti ist nach Marrakesch gereist und hat seine Erlebnisse in kurzen Geschichten festgehalten, die nicht einmal richtige Geschichten sind, sondern, na ja, Reiseerlebnisse halt. Pointenlos zumeist, etwa wenn er Kamelen begegnet, von ihnen fasziniert ist, und dann erfährt, dass sie geschlachtet werden sollen: das macht ihn traurig. Nun denn. Oder wenn er von den Suks erzählt, wie vollgestopft es dort ist, was man alles kaufen kann, wie die Händler inmitten ihrer Waren sitzen, und dass man handeln muss und der zuerst genannte Preis nichts mit dem wirklichen Preis zu tun hat. Das Buch ist 1968 erschienen, vielleicht war das damals eine große Neuigkeit, aber heute hält sich die Überraschung des Lesers dann doch in Grenzen. Vielleicht ist das überhaupt das Problem, vielleicht müsste man es als historisches Dokument lesen. Aber so alt isses ja nun auch wieder nicht.

Im Übrigen hatte Canetti, als er es schrieb, schon seit vielen Jahren in London gelebt, und das merkt man seinem Deutsch leider an. Der Vorwurf geht dabei gar nicht so sehr an Canetti selbst, als vielmehr ans Lektorat: „einige zweihundert Meter entfernt“ – Himmel! Sowas darf man einfach nicht übersehen. Oder: „Ich war mit einem Freund.“ Oder über die Geschichtenerzähler: „Ihre Sprache war ihnen so wichtig wie mir meine. Worte waren ihre Nahrung und sie ließen sich von niemand dazu verführen, sie gegen eine bessere Nahrung zu vertauschen.“ Und so weiter. Ich verspürte beim Lesen dauernd den Drang, es mal ordentlich durchzulektorieren, und das darf bei einem großen Autor wie Canetti doch bitte nicht sein. Schade.

Ach, Canetti. Schon ziemlich gut, aber bei dem Buch bin ich auch nicht weit gekommen. Viel, viel besser ist der zweite Teil seiner Autobiographie "Die Fackel in meinem Ohr". Auch noch ok "Das Augenspiel". Aber die "Fackel" ist wirklich sehr gut und dicht geschrieben.

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ich stimme dir zu. ich ließ mich vor jahren vom allzu schönen einband einer hardcoverausgabe verführen, hatte lust auf atmosphärische dichte, unwägbares, schwere gerüche, hypnotische eindrücke, flirrendes licht - kurz: erzählenswertes. die völlige abwesenheit eines spannungsbogens, die blassen begebenheiten langweilten mich und ich gab nach der dritten episode auf. ich fragte mich damals auch, ob mein desinteresse geringer wäre, hätte ich nie vorher etwas von marrakesch gesehen oder gehört.

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Nö. Ich wusste vorher nicht viel über Marrakesch, und jetzt weiß ich auch nicht viel mehr. Die Episoden werden nach hinten hin ein bisschen interessanter, da gibt es immerhin Begegnungen mit Menschen, aber das reißt's auch nicht raus.

(Nach ein paar Episoden aufgegeben habe ich letztes Jahr in Polen, wo ich Lenz' "So zärtlich war Suleyken" lesen wollte und es komplett belang- und witzlos fand, echte Omalektüre.)

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Ich sach ja immer, im Ernstfall ist auch ein Nobelpreisträger erstmal der Nobelpreisträger der anderen.

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Mag mir nun auch der wüst fegende Gegenwind ins Gesicht peitschen: Ich mag die Stimmen von Marrakesh. Nun habe ich es nach einem Frankreichurlaub auf dem Kölner Hauptbahnhof morgens von zwei bis sechs gelesen, was unter Umständen meine Kritikfähigkeit minimiert haben mag, aber zumindest harscher Kritik dem Buch gegenüber mag ich mich nur ungern anschließen. Als Roman war's vermutlich nie geplant, ergo ist Erzählstringenz nicht notwendig. Pointenlos erschienen mir die Betrachtungen nicht unbedingt. Canetti hat gerade mit der "Blendung" sicherlich weit Bedeutenderes geschaffen und es mag Literatur geben, die weit mehr über den Ort ihrer Handlungen verrät, aber ich mochte den Erzählton und die Stimmungen.

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Ach was, Gegenwind. Über Geschmack undsoweiter.
Fällt mir schon wieder Max Goldt ein, der sinngemäß irgendwo schrieb, man würde ja wohl nicht plötzlich jemanden doof finden, weil der irgendwas gut findet, was man selbst doof findet. Ebensowenig wie man jemanden gut findet, weil er was gut findet, was man selbst gut findet.
Und ich freu mich immer über Widerspruch. Na gut, immer nicht.

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Last modified: 06.06.24, 10:52
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Kommentare
Anderthalbfache Unterstützung!
Christl Klein, vor 12 Jahren
Hm, Tempers Kommentar ist ja
schon von 2008 - ich schätze eher nicht, dass...
isabo, vor 13 Jahren
Zettel's Ingo Maurer Hallo,
ich habe Ihren Beitrag zur Zettel's-Lampe gefunden. Da ich sie gerne...
Christiane Thomaßen, vor 13 Jahren
das ist ein hobby
von mir. antizyklisches kommentieren ;)
fabe, vor 13 Jahren
Das hier ist ja
schon eine Weile her. Hihi.
isabo, vor 13 Jahren
hier war ja neulich
stromausfall. menschen sind merkwürdig.
fabe, vor 13 Jahren
endlich endlich setzt jemand ein
Zeichen gegen das ständige Aussterben schöner Wörter! Da bin ich...
federfee, vor 13 Jahren
Lassen Sie doch vielleicht mal
Ihr Assoziationsmodul überprüfen, das spielt ja geradezu verrückt. Das...
isabo, vor 13 Jahren
Oh, vielen Dank!
isabo, vor 14 Jahren
grosses Lob Liebe Isabo,
bin ueber Meike auf Dich gestossen und finde Deine Texte ganz...
LvO, vor 14 Jahren
Der Verein lebe hoch, anderthalb
mal hoch Bin dabei.
Jolen, vor 14 Jahren
Da spricht mir wer aus
der Seele. Ich gebe mir auch schon seit Jahren...
Cuguron, vor 14 Jahren
Ha, wir haben auch nur
Fangen (hieß einfach "fanga") ohne so ein Hintertürchen gespielt....
Irene, vor 14 Jahren
Meiner hat mir nur von
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strandfynd, vor 14 Jahren
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Interview gestolpert - für mich als Auch-Japanisch-Übersetzerin doppelt und...
frenja, vor 14 Jahren
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croco, vor 14 Jahren
das hier geht woanders
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don papp, vor 14 Jahren
Ja. Ich habe aber erstens
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isabo, vor 14 Jahren
Sie wissen aber schon,
dass das hier schöner ausschaut?
leavesleft, vor 14 Jahren
Gute Entscheidung. Trennung in beruflich
und privat ist unpraktisch (für alle Beteiligten) und wenig...
textundblog, vor 14 Jahren
Jo. Dann.
isabo, vor 14 Jahren
Möchten Sie es wissen?
kinomu, vor 14 Jahren
alles gute und auf nach
drüben!
skizzenblog, vor 14 Jahren
ja ja ja!!! ES geht
es geht es geht!!! (aber halt ohne Editieren, wurscht!)...
g a g a, vor 14 Jahren
Ich GLAUBE, ich habe
das Captcha- Dings jetzt weggemacht. Kannst Du es nochmal veruschen?
isabo, vor 14 Jahren

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