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Donnerstag, 8. Dezember 2005
Liebe

Mal nach Hamburg kommen?, sagt er, Gute Idee eigentlich, aber im Moment ist mir alles so viel, mir werden ja sogar schon meine Leute zu Hause in F zu viel, aber Hamburg, vielleicht, wäre ja doch schön, mal sehen, ich denke mal drüber nach.
Ich glaube ihm kein Wort. Ich bin sicher, er würde schrecklich gerne kommen, er ist ein geselliger Mensch, redet gerne, und so weit ist es nun auch nicht nach Hamburg. Aber seine Frau schafft das nicht. Sachen packen, so weit fahren, und dann in einer fremden Stadt, und, das Schlimmste wahrscheinlich: uns zur Last fallen, sie würde sich alle zehn Minuten entschuldigen, dass sie da ist, dass sie unser Gästebett benutzt, unser Essen isst, unsere Getränke trinkt, und uns versichern, wie lecker unser Essen ist und unsere Getränke, und es würde überhaupt nichts nutzen, wenn wir ihr in der gleichen Frequenz versicherten, wie gern wir Besuch haben, wie sehr wir uns freuen, dass sie da sind, dass es überhaupt keine Mühe macht und alles in Ordnung ist. Sie würde es einfach nicht schaffen, länger als vielleicht anderthalb Stunden bei jemandem zu sein. Er kann auch nicht ohne sie kommen, natürlich, denn allein zu Hause lassen kann er sie ebenso wenig. Das würde er aber nie sagen, nicht am Telefon, und schon gar nicht, wenn sie daneben sitzt und es hört, aber wahrscheinlich auch sonst nicht. In all den Jahren, die seine Frau nun schon krank ist, habe ich ihn nie ein böses Wort über sie sagen hören; nicht mal, dass es anstrengend sei, hat er je spüren lassen.
Manchmal kam sie mit auf irgendwelche Geburtstage. Mit mehreren Leuten drum herum war es natürlich noch schwieriger, dann saß sie ziemlich still in der Ecke und er saß daneben und hielt ihre Hand und hielt sie fest, und sie hielt sich an ihm fest, und nach einer Stunde gingen sie, weil es dann genug war und sie unruhig wurde. Oder er kam allein, dann klingelte nach einer Stunde sein Handy, ob er bald nach Hause käme. Kein gereiztes Mann, kann man dich nicht mal zehn Minuten alleine lassen, sondern ein liebevolles ja, ich komme gleich, immer. Entschuldigt bitte, sagte er dann, ich kann sie nicht so lange alleine lassen, es geht ihr nicht so gut. Traurig wirkt er dabei, vielleicht sogar resigniert, aber nie genervt.
Ich weiß nicht, ob sie die optimale Behandlung bekommt, die Ärzte scheinen einigermaßen hilflos, oder ob man nicht doch noch irgendwas machen könnte. Ich kenne die beiden nicht besonders gut, und ich weiß nicht mal, ob er irgendwen hat, der ihn mal feste in den Arm nimmt. Da, wo sie wohnen, bestimmt nicht, da ist, wie ich das sehe, überhaupt niemand. Ich habe keine Ahnung, woher er die Kraft nimmt. Und ich habe großen Respekt davor, wie unendlich liebevoll er mit ihr umgeht.

Respekt für den liebevollen Umgang, ja. Aber ich finde es schlimm, wenn jemand sich selbst nicht wahrnimmt und sein Leben ganz und gar vom anderen bestimmen lässt.

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Warten Sie mal ab, bis Sie ein Pflegefall sind, werter blue sky, dann unterhalten wir uns nochmal über Ihr Posting.

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Dieser moralische Bauchtritt verfehlt sein Ziel, Jochen. Genau hier liegt doch das Problem. Gesunder Umgang mit sich selbst wird stets als Gegenpol zum liebe- (und auch aufoperungsvollen) Umgang mit anderen aufgebaut: Schwarz vs. Weiß.

Ich bin davon überzeugt, dass für sich und andere sorgen zu können nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern sich letztlich auch gegenseitig bedingen. Mein allergrößter Respekt gilt denen, die sowohl das eine als auch das andere nicht aus dem Auge verlieren - so wie z. B. eine sehr geschätzte Bloggerin.

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In mühevoller Selbsterfahrung ( auf welcher "Seite" sagichnicht) habe ich vor allem eins gelernt: Man tut niemandem einen Gefallen, wenn man die Realität ausblendet und die Spiele mitspielt. Gut gemeinte Rücksicht ist in solchen Fällen oft kein Ausdruck von Mitgefühl sondern häufig mit einem Schuß Feigheit gemischte Coabhängigkeit. Liebevolle, richtig dosierte (eine Kunst für sich) Konfrontation may be the way to go. Zur Not in der xten Iteration.

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Stimmt, als Co-Abhängigkeit hatte ich das noch gar nicht gesehen, aber Ihr habt natürlich Recht. Tatsächlich ist es so, dass ich mir große Sorgen um ihn mache, und ich sehe durchaus, dass er zwar die Kraft hat, liebevoll mit ihr umzugehen, aber nicht die Kraft, sich erstens um sich selbst zu kümmern und zweitens sie auch mal anzustupsen, etwas zu unternehmen - andere Ärzte zu konsultieren, andere Therapien zu versuchen, sich mal wieder irgendwas zuzutrauen etc. Diese Resignation ist für ihn mit Sicherheit nicht gesund.

Und ja, vor der geschätzen Bloggerin habe ich genau deswegen den größten Respekt: weil sie sich trotz aller Aufopferung - igitt, was für ein grässliches Wort. Also, dass sie sich sehr liebevoll kümmert und trotzdem ihre eigenen Interessen und ihr eigenes Leben nicht aus den Augen verliert, sondern sie so gut wie möglich in die Pflegesituation integriert. Sich eben nicht "opfert". (Ich kenne sie gar nicht persönlich, aber das Blog lässt all dies vermuten. Chapeau.)
Dem Kranken ist wohl langfristig auch nicht damit gedient, dass der Pflegende sich selbst aufgibt.

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hat gestern abend jemand zufällig "thea und nat" gesehen? sehr ähnliche problematik, sehr zu empfehlen.
und am rande, wenn auch nicht weniger wichtig: mir gefällt es sehr wie sie das umgesetzt haben, also ich lese sie sehr gern :-)

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Danke für das Kompliment! Freut mich sehr.

Wo ich so drüber nachdenke, fällt mir gerade auf: es ist doch sonderbar, dass es einen oft erstmal Kraft kostet, dass man sich aufraffen muss, sich einen Ruck geben, etwas zu tun, von dem man genau weiß, dass es einem Kraft gibt. Fängt ja schon beim Sport an, da weiß man genau, dass man sich hinterher super fühlt, und trotzdem kriegt man den Arsch nicht hoch. (Weiß doch jeder, dass man mit "man" meistens "ich" meint.)

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meine Rede :-)

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Wunderschön nachfühlbare Beschreibung eines Phänomens, das in sehr vielen Beziehungen zu finden ist. Mir scheint die Sonne ins Gesicht.

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Last modified: 06.06.24, 10:52
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Kommentare
Anderthalbfache Unterstützung!
Christl Klein, vor 12 Jahren
Hm, Tempers Kommentar ist ja
schon von 2008 - ich schätze eher nicht, dass...
isabo, vor 13 Jahren
Zettel's Ingo Maurer Hallo,
ich habe Ihren Beitrag zur Zettel's-Lampe gefunden. Da ich sie gerne...
Christiane Thomaßen, vor 13 Jahren
das ist ein hobby
von mir. antizyklisches kommentieren ;)
fabe, vor 13 Jahren
Das hier ist ja
schon eine Weile her. Hihi.
isabo, vor 13 Jahren
hier war ja neulich
stromausfall. menschen sind merkwürdig.
fabe, vor 13 Jahren
endlich endlich setzt jemand ein
Zeichen gegen das ständige Aussterben schöner Wörter! Da bin ich...
federfee, vor 13 Jahren
Lassen Sie doch vielleicht mal
Ihr Assoziationsmodul überprüfen, das spielt ja geradezu verrückt. Das...
isabo, vor 13 Jahren
Oh, vielen Dank!
isabo, vor 14 Jahren
grosses Lob Liebe Isabo,
bin ueber Meike auf Dich gestossen und finde Deine Texte ganz...
LvO, vor 14 Jahren
Der Verein lebe hoch, anderthalb
mal hoch Bin dabei.
Jolen, vor 14 Jahren
Da spricht mir wer aus
der Seele. Ich gebe mir auch schon seit Jahren...
Cuguron, vor 14 Jahren
Ha, wir haben auch nur
Fangen (hieß einfach "fanga") ohne so ein Hintertürchen gespielt....
Irene, vor 14 Jahren
Meiner hat mir nur von
dem Smiley auf seiner Krone erzählt. Und ob ich...
strandfynd, vor 14 Jahren
Bin gerade erst über das
Interview gestolpert - für mich als Auch-Japanisch-Übersetzerin doppelt und...
frenja, vor 14 Jahren
Beide haben Fahnenmasten, der linke
und der rechte Nachbar. Und beide haben die Deutschlandfahnen...
croco, vor 14 Jahren
das hier geht woanders
nicht besser, aber versuch macht kluch...
don papp, vor 14 Jahren
Ja. Ich habe aber erstens
Schimpfe bekommen für dieses wunderschöne, kühle, coole, elegante, heißgeliebte...
isabo, vor 14 Jahren
Sie wissen aber schon,
dass das hier schöner ausschaut?
leavesleft, vor 14 Jahren
Gute Entscheidung. Trennung in beruflich
und privat ist unpraktisch (für alle Beteiligten) und wenig...
textundblog, vor 14 Jahren
Jo. Dann.
isabo, vor 14 Jahren
Möchten Sie es wissen?
kinomu, vor 14 Jahren
alles gute und auf nach
drüben!
skizzenblog, vor 14 Jahren
ja ja ja!!! ES geht
es geht es geht!!! (aber halt ohne Editieren, wurscht!)...
g a g a, vor 14 Jahren
Ich GLAUBE, ich habe
das Captcha- Dings jetzt weggemacht. Kannst Du es nochmal veruschen?
isabo, vor 14 Jahren

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