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Freitag, 27. Januar 2006
Déformation Professionnelle. Vielleicht.

Ich kann nicht mehr lesen.
Auf Englisch schon länger nicht mehr, weil ich immer im Kopf übersetze und die Fähigkeit verloren habe, Wörter, die ich nicht kenne, einfach zu überlesen. Das ist natürlich übertrieben, natürlich lese ich die Bücher, die ich übersetze, zuerst einmal durch, ohne Wörterbuch daneben. Aber ich kann mich nicht mehr einfach in ein englisches Buch plumpsen lassen, ohne parallel im Kopf dauernd die Übersetzung laufen zu haben. Das nervt, es ist anstrengend, und es kostet Zeit.
Damit könnte ich leben, denn ich lese gerne auf Deutsch, weil Deutsch schön ist, und weil ich sowieso immer das Gefühl habe, Deutsch tanken zu müssen und zu wollen, mir anzuschauen, wie deutsche Autoren oder meine Übersetzerkollegen sich ausdrücken, das ist gut.
Nur geht es da jetzt auch los. Mein Lesen wird immer langsamer, immer wieder denke ich über einzelne Formulierungen nach, etwa weil sie so hübsch sind, dann will ich sie mir merken, überlege, ob mir das auch hätte einfallen können, oder was genau ich daran so hübsch finde, was eigentlich völlig wurscht ist. Wenn ich über etwas nachdenke, weil es gerade nicht hübsch ist, dann will ich aber wirklich wissen, was genau mich stört, dann lektoriere ich im Kopf, denke Korrekturzeichen, überlege, wie es schöner oder richtiger gewesen wäre, oder ob es vielleicht doch einen Grund gibt, es so und nicht anders auszudrücken, und dann denke ich, dass ich verdammt noch mal nicht so pingelig sein soll, denn andererseits habe ich auch Angst, dass ich selbst nur noch völlig glatte Texte abliefere, ohne Ecken und Kanten, ohne was Eigenes. Und überlege, welche Ecken und Kanten den persönlichen Charme eines Übersetzers oder Autors ausmachen, welche einem Buch Charakter verleihen und welche einfach nicht gehen, und ob nicht hier oder dort doch ein Komma hingehört hätte, es nimmt kein Ende. Und zu allem Überfluss habe ich dann auch noch die Befürchtung, irgendein wichtiges Detail der erzählten Geschichte zu verpassen, und wenn ich mich dabei erwische, dass ich die letzte Seite wohl doch nur überflogen und nicht gründlich gelesen habe, dann lese ich sie noch mal, gründlich, und stelle je-des Mal fest, dass ich sehr wohl alles mitbekommen hatte, was dort steht. Ich müsste gar nicht jedes Wort, jede Zeile wirklich einzeln lesen, es funktioniert doch, Teile eher zu überfliegen, warum kann ich es trotzdem nicht?
F. sagt, den Max Goldt hätte man doch auf zwei länglichen S-Bahn-Fahren durch. Wie soll das gehen? Ich schaffe gerade eine Geschichte auf einer Fahrt, dabei habe ich bei Herrn Goldt noch nicht mal etwas auszusetzen, sondern muss nur über hübsche Formulierungen nachdenken. P. sagt, er liest drei-vier Bücher die Woche, ich brauche eher drei-vier Wochen für ein Buch. Der lustige Mann liest auch viel schneller als ich, ist Schnelllesen eine Männerkompetenz? Ich würde schrecklich gern diese penetrante, penible, pingelige Übersetzerin und Lektorin in meinem Kopf ausschalten können und einfach mal wieder ein Buch so durchziehen. Es gibt doch sogar Kurse für so was, das muss man doch lernen können. Und man muss es sich doch auch ohne Kurs einfach mal angewöhnen können. Kann doch so schwer nicht sein.

das gibts bei gestaltern auch.. man kann dann nicht an einem plakat vorbeigehen, ohne über abstände, farben, typo nachzudenken..[. du hast gesagt, dich nervt, dass ich nur zwei punkte setze]

ich frage mich oft, wie es anderen schaffenden berufsgruppen geht - zum beispiel den leidenschaftlichen maurern?!
schauen die sich gebäude an und denken "boah, watt soll datten?"

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[Menno, Mark, das ist mir jetzt peinlich, das mit den Punkten, Du hattest quasi danach gefragt!]

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:) stimmt. auch wenn ich mich nicht mehr erinnere, wieso.. ich kann sie ja übereinander setzen:
aber das gibts schon oder?

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Es ist verrückt, da hast Du was bechrieben, das mir exakt so vorgestern Nacht im Kopf rumging. Ich lag und las ein paar französische Satiren meines Hausgottes Pierre Desproges und ständig, wie ein nerviges Voiceover plapperte ich im Kopf schon die deutsche Übersetzung vor mich hin und, was noch schlimmer ist: Vollbremsung vor jedem Wortspiel und Gedanken von "wie mach ich DAS jetzt auf Deutsch" bis "verdammt - nicht zu übertragen, die Glosse kann ich vergessen." Frau Zeichner fragt sich dann immer, warum der Idiot neben ihr zwei Stunden auf ein und dieselbe Seite starrt. Und eh ich's mich versehe liege ich doch wieder mit drei vier fetten Dictionnaire-Schwarten im Bett, obwohl ich nur ein paar Seiten lang ausspannen wollte.

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Du Ärmste! Ich kannte einen Zeitungslektor, der nur noch Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe lesen konnte. (Las deshalb nur noch dichte Sachbücher.) Er ist jetzt seit mehr als zehn Jahren in Rente; ich sollte mal nachfragen, ob sich diese Deformation wieder gelegt hat.

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Der nordische Kombinierer Ronny Ackermann, immerhin amtierender Doppelweltmeister seiner Disziplin, hat in diesem Winter das Skispringen verlernt und erreicht "nur" noch Plätze jenseits der Top 10. Sein Trainer hat ihn daraufhin aus den laufenden Weltcup-Wettbewerben genommen und erarbeitet mit ihm den Bewegungsablauf des Skispringens ganz von Anfang an, um noch rechtzeitig für Turin wieder in Form zu kommen; der kommende Olympiasieger trainiert z.Zt. wahrscheinlich auf einer 10 m - Kinderschanze.

Äquivalent für Deinen Beruf wäre wohl das (Wieder) Lesen englischer Kinderbücher. Zur größten Not als audiobook. Give it a try! Dann klappt's auch noch mit dem Olympiasieg Europäischen Übersetzerpreis.

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*pruuust*
Der Vergleich hinkt ja so dermaßen auf sämtlichen Beinen, dass er fast schon wieder gut ist.
(Dochdoch, Buchstaben kann ich noch! Ich weiß sogar, wie man Wörter und Sätze draus macht. Ich kann nur nicht mehr entspannt rezipieren.)

Aber vielleicht ist Hörbuch gar keine schlechte Idee, da geht es einfach immer weiter, man darf gar nicht erst hängenbleiben und über was nachdenken. Vielleicht hülfe das als Übung. Leider habe ich bisher so gar kein Verhältnis zu diesem Medium - möglicherweise genau deswegen, weil ich nicht hängenbleiben darf. Hm.

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Last modified: 06.06.24, 10:52
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Kommentare
Anderthalbfache Unterstützung!
Christl Klein, vor 12 Jahren
Hm, Tempers Kommentar ist ja
schon von 2008 - ich schätze eher nicht, dass...
isabo, vor 13 Jahren
Zettel's Ingo Maurer Hallo,
ich habe Ihren Beitrag zur Zettel's-Lampe gefunden. Da ich sie gerne...
Christiane Thomaßen, vor 13 Jahren
das ist ein hobby
von mir. antizyklisches kommentieren ;)
fabe, vor 13 Jahren
Das hier ist ja
schon eine Weile her. Hihi.
isabo, vor 13 Jahren
hier war ja neulich
stromausfall. menschen sind merkwürdig.
fabe, vor 13 Jahren
endlich endlich setzt jemand ein
Zeichen gegen das ständige Aussterben schöner Wörter! Da bin ich...
federfee, vor 13 Jahren
Lassen Sie doch vielleicht mal
Ihr Assoziationsmodul überprüfen, das spielt ja geradezu verrückt. Das...
isabo, vor 13 Jahren
Oh, vielen Dank!
isabo, vor 14 Jahren
grosses Lob Liebe Isabo,
bin ueber Meike auf Dich gestossen und finde Deine Texte ganz...
LvO, vor 14 Jahren
Der Verein lebe hoch, anderthalb
mal hoch Bin dabei.
Jolen, vor 14 Jahren
Da spricht mir wer aus
der Seele. Ich gebe mir auch schon seit Jahren...
Cuguron, vor 14 Jahren
Ha, wir haben auch nur
Fangen (hieß einfach "fanga") ohne so ein Hintertürchen gespielt....
Irene, vor 14 Jahren
Meiner hat mir nur von
dem Smiley auf seiner Krone erzählt. Und ob ich...
strandfynd, vor 14 Jahren
Bin gerade erst über das
Interview gestolpert - für mich als Auch-Japanisch-Übersetzerin doppelt und...
frenja, vor 14 Jahren
Beide haben Fahnenmasten, der linke
und der rechte Nachbar. Und beide haben die Deutschlandfahnen...
croco, vor 14 Jahren
das hier geht woanders
nicht besser, aber versuch macht kluch...
don papp, vor 14 Jahren
Ja. Ich habe aber erstens
Schimpfe bekommen für dieses wunderschöne, kühle, coole, elegante, heißgeliebte...
isabo, vor 14 Jahren
Sie wissen aber schon,
dass das hier schöner ausschaut?
leavesleft, vor 14 Jahren
Gute Entscheidung. Trennung in beruflich
und privat ist unpraktisch (für alle Beteiligten) und wenig...
textundblog, vor 14 Jahren
Jo. Dann.
isabo, vor 14 Jahren
Möchten Sie es wissen?
kinomu, vor 14 Jahren
alles gute und auf nach
drüben!
skizzenblog, vor 14 Jahren
ja ja ja!!! ES geht
es geht es geht!!! (aber halt ohne Editieren, wurscht!)...
g a g a, vor 14 Jahren
Ich GLAUBE, ich habe
das Captcha- Dings jetzt weggemacht. Kannst Du es nochmal veruschen?
isabo, vor 14 Jahren

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