Donnerstag, 4. Mai 2006
Gelesen
isabo,
21:03
„Später saßen wir in einem Gartenlokal und lachten wieder, aber manchmal war das nicht möglich. Meine Leute sind das nicht, sagte Dole, alle diese Gespräche über Steuern, Karriere und Sicherheit. Selbstverständlich muss man darüber reden, wir reden auch über Geld, aber muss man das ununterbrochen tun? Anschaffungen, Absicherungen und Geschäfte – mich macht das so müde, Gil. Das ist doch nicht alles. Man erledigt das, um wirklich atmen zu können, wir wollen doch atmen. Das Geld braucht die Fantasie doch nicht aufzufressen. Ich halte das nicht aus, da gehe ich nicht mehr hin. Ein Glück, dass wir auch richtige Freunde haben. Ich bekomme Angst, wenn ich sehe, wie schnell die Leute vor ihrer Angst kapitulieren und wie unaufrichtig die meisten geworden sind. Keinen Zweifel an sich herankommen zu lassen – das ist unmenschlich. Würde dir einer von diesen Leuten zuhören, ich meine: offen und schön und um deinetwillen zuhören, wenn du etwas Schreckliches mitzuteilen hättest? Dieses Leben mit überzuckerter Dauerdepression, diese komfortable Absterberei. Unterdrückte Unruhe und betriebsame Langeweile – das ist doch ein Alptraum. Menschen, die ihre Zärtlichkeit verloren haben, sind unerträglich. Und warum glaubt jeder, funktionieren zu müssen. Ich will nicht funktionieren, ich funktioniere kein bisschen. Zu halben Sachen lasse ich mich nicht zwingen. Ich mache meine Arbeit, mache sie gern und weiß, dass ich sie gut und gründlich mache, aber ich bin nicht verfügbar, ich halte mich selber nicht für so wichtig, durchaus nicht für unersetzlich im Nervenzentrum der Welt. Und ich halte die nette Freudlosigkeit nicht aus, die fast gewissenlose Bequemlichkeit, die Resignation der meisten, diese schreckliche Resignation mit Krawatte und Doppelkinn. Natürlich sind nicht alle Leute so, aber es sind zu viele, es sind zu viele. Bin ich ungerecht? Sag mir, ob ich ungerecht bin, sag mir was, Gil. Ich verachte niemanden, aber es gibt einen Punkt, an dem ich niemanden mehr verteidigen kann. Zu viele Leute leben auf diesem Punkt. Ich verstehe, dass man dort hinkommen kann, man kann schließlich fast alles verstehen, und man kann so ziemlich überall hin kommen, aber ich will das nicht. Ich lehne es ab. Ich gebe nichts auf und will nichts verlieren. Ich suche keinen sicheren Platz bei den Säulen und pfeife auf alle Bequemlichkeit. Ich bin kein Schrumpfmensch, laufe nicht mit zerdrückter Courage herum. Meine Hoffnung und meine Courage, das ist mein persönliches geistiges Eigentum – lach mich nicht aus. Oder lach mich aus, du kannst mich ruhig auslachen. Ich will, dass mich alles etwas angeht. Ich will nichts auslassen und ich will mir nichts einreden, ich nehme jede Verzweiflung an – wenn die Leute doch richtig verzweifelt sein könnten. Ich will mein Leben nicht billig haben, ich will auch die Liebe nicht billig haben, und für das, was mir fehlt, will ich keinen Ersatz. Ich fühle mich so lebendig, überhaupt nicht resigniert oder klein und unfrei. Hältst du es für möglich, dass wir so abgebrüht wie die anderen werden? So gelangweilt und kalt und clever im Sessel sitzen und womöglich gar nicht auf den Gedanken kommen, unser Bestes aufgegeben zu haben? Ach Gil, ich finde es manchmal entsetzlich, älter zu werden. Küss mich, Gil, sag, dass du mich liebst, sei gut und küss mich.“ Christoph Meckel: Licht. S. 69ff.
isabo,
04.05.06, 21:08
„Manchmal wache ich auf, wenn es draußen hell ist, sagt Dole. Ich habe keine Vorstellung, wo ich bin. Ich begreife, dass das Licht vor mir da war, es ist zurückgekommen und älter als ich. Ich weiß nicht, ob ich nackt im Bett oder in Kleidern auf dem Teppich liege. Ich will es nicht wissen, brauche mir keine Vorstellung zu machen, weder von der Tageszeit noch von mir selbst. Ich weiß nicht, wie alt ich bin oder wie ich heiße, das ist ein Zustand ohne Erinnerung. Es ist möglich, dass ich zwanzig Jahre alt bin und im Haus meines Vaters auf der Fensterbank liege. Es ist auch möglich, dass ich viel kleiner bin und ein unwahrscheinliches Leben vor mir habe. Keinesfalls bin ich älter als ungefähr jung.“ S. 75 ... Link |
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Last modified: 06.06.24, 10:52 Status
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Kommentare
Zettel's Ingo Maurer Hallo,
ich habe Ihren Beitrag zur Zettel's-Lampe gefunden. Da ich sie gerne...
Christiane Thomaßen, vor 13 Jahren
endlich endlich setzt jemand ein
Zeichen gegen das ständige Aussterben schöner Wörter! Da bin ich...
federfee, vor 13 Jahren
Lassen Sie doch vielleicht mal
Ihr Assoziationsmodul überprüfen, das spielt ja geradezu verrückt. Das...
isabo, vor 13 Jahren
grosses Lob Liebe Isabo,
bin ueber Meike auf Dich gestossen und finde Deine Texte ganz...
LvO, vor 14 Jahren
Ha, wir haben auch nur
Fangen (hieß einfach "fanga") ohne so ein Hintertürchen gespielt....
Irene, vor 14 Jahren
Bin gerade erst über das
Interview gestolpert - für mich als Auch-Japanisch-Übersetzerin doppelt und...
frenja, vor 14 Jahren
Beide haben Fahnenmasten, der linke
und der rechte Nachbar. Und beide haben die Deutschlandfahnen...
croco, vor 14 Jahren
Ja. Ich habe aber erstens
Schimpfe bekommen für dieses wunderschöne, kühle, coole, elegante, heißgeliebte...
isabo, vor 14 Jahren
Gute Entscheidung. Trennung in beruflich
und privat ist unpraktisch (für alle Beteiligten) und wenig...
textundblog, vor 14 Jahren
ja ja ja!!! ES geht
es geht es geht!!! (aber halt ohne Editieren, wurscht!)...
g a g a, vor 14 Jahren
Ich GLAUBE, ich habe
das Captcha- Dings jetzt weggemacht. Kannst Du es nochmal veruschen?
isabo, vor 14 Jahren
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