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Mittwoch, 6. Juni 2007
Tante Agnes

Montag, 07.02.2005

Früher kam es schon mal vor, dass sie Sonntags Nachmittags plötzlich vor der Tür stand. Wie sie denn hergekommen sei, fragten wir dann, denn das Autofahren hatten meine Eltern ihr bereits ein paar Jahre zuvor ausgeredet. „Autostop“, sagte strahlend, „da war so ein netter junger Mann, der hat mich bis vor die Tür gebracht.“ Da war sie um die siebzig. Unsere Freude über ihren Besuch hielt sich meist in Grenzen, denn sie war vor allem eins: anstrengend. Inzwischen glaube ich etwas anderes, ich glaube, sie war vor allem unglaublich tapfer. Sie hatte es nicht leicht mit der Welt, und vor allem mit sich selbst nicht, aber sie hat sich (und uns) so lange vorgebetet, dass man auf die Menschen zugehen muss und es viel Freude gibt im Leben, bis sie wahrscheinlich selbst nicht mehr wusste, ob sie nun optimistisch und lebensfroh war oder litt. Ihre Schwester, meine Oma, ist mit einer ähnlichen psychischen Disposition verbittert geworden.
Tante Agnes hat Zeit ihres Lebens mit schweren Depressionen gekämpft und musste täglich Medikamente dagegen nehmen. Damit ging es ihr gut, bis sie wieder irgendeinem Heilfastenguru in die Finger fiel, der ihr versicherte, sie bräuchte das nicht, sie müsse nur dies und jenes beachten. Ein halbes Jahr später musste sie dann meist wieder für eine Weile in die Klinik, bis sie neu eingestellt war. Und nach ein paar Jahren alles wieder von vorne.
Inzwischen ist sie neunzig und lebt schon seit einigen Jahren auf der Pflegestation eines Altenheims. Körperlich ging das meiste noch, geistig eigentlich auch, nur die Psyche wollte gar nicht mehr, sie lag phasenweise nur noch im Bett, wimmerte, redete wirr, sah lauter kleine Krabbeltiere im Teppich, hatte Angst, jammerte, meine Eltern sollten öfter kommen, aber die Kinder, nein, „die Kinder sollen mich so nicht sehen“. Irgendwann änderte sich das wieder, es wurde immer besser; Isa, sagte sie zu meiner Mutter, Isa würde sie doch gerne mal wieder sehen.
Im Dezember entzündete sich eine Wunde an ihrer Hüfte und heilte gar nicht mehr, außerdem wurde Analkrebs diagnostiziert, sie sollte ins Krankenhaus und wehrte sich zunächst mit Händen und Füßen und großem Spektakel dagegen. Der Arzt sagte meinen Eltern, mit ein paar Wochen Krankenhaus dürfte es kaum getan sein, sie sollten sich besser auf mehrere Monate einrichten. Man schnitt ihr die Hüfte auf, nahm das alte künstliche Hüftgelenk heraus und setzte ein neues ein. Drei Wochen später kam sie aus dem Krankenhaus und spaziert seither munter mit ihrem Rollator durch die Gegend.
Gestern waren wir bei ihr. Sie strahlte. Sie freute sich von Herzen, uns zu sehen. Sie fragte, wie es mit dem Übersetzen läuft, und ob mein Mann Freude an seinem Beruf hat. Sie erinnerte sich, dass mein Schwiegervater aus Ostpreußen stammt, und hatte Fragen dazu. Erzählte Geschichten aus meiner Kindheit, erkundigte sich nach meinen Geschwistern und deren Kindern. Sie hat mehrfach richtig laut und vergnügt gelacht. Sie freute sich über ihre Zimmergenossin, die im Bett lag, lautstark Radio hörte, offensichtlich nicht ansprechbar war und nichts sagte, außer dass sie gelegentlich „Hallo!“ rief. „Ich freu mich“, sagte Tante Agnes, „die ist immer still, wenn ich Besuch habe, und wenn ich singe, dann summt sie mit. Ich singe auch immer Abends im Bett, dann summt sie auch, und dann wird sie irgendwann still, und dann werde ich auch ganz ruhig und kann gut schlafen.“ Und sie meinte, wenn wir das nächste Mal kämen, könnte sie bestimmt wieder noch besser laufen. „Andere bauen ja mit neunzig ab, ich blühe richtig auf.“

Das schrieb ich im Februar 2005.

Seit Monaten liegt sie nur noch im Bett, ist kaum ansprechbar. Im Januar war ich bei ihr, und dann noch mal irgendwann im Frühjahr. Vorgestern sind meine Eltern früher als geplant aus dem Urlaub zurückgekommen. Sie trinkt kaum noch und isst nicht mehr, sie schläft, man bekommt sie fast nicht mehr wach. Man weiß nicht, was sie noch wahrnimmt, ob sie merkt, dass jemand da ist, und wer da ist. Der Pfarrer war bei ihr, sie hat die letzte Ölung erhalten. Man kann nicht wissen, ob sie das weiß, aber sie hätte es sicher gewollt.

Jetzt hat sie es bald geschafft. Ich wünsche ihr, dass es nicht mehr lange dauert.

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ein friedlicher Abschied
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Ich hatte den Eindruck, dass Du mit Deinen Beiträgen über Deine Oma ein Stück weit Abschied nimmst. Es ist merkwürdig, das Sterben. Ich kann es mir für mich einfach nicht vorstellen, dass es irgendwann einmal so sein wird. Ich schicke Dir herzliche Grüsse mit:)

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Eine meiner Zwillingstanten, deren Leben so aufregend war, dass ich es schon seit Jahren versuche in einen Text zu quetschen, ist vor ein paar Wochen ganz friedlich im Alter von 95 Jahren eingeschlafen. Aber egal wie alt jemand ist, und egal wie lange man sich auch auf so was vorbereitet - wenn es soweit ist, dann ist es doch immer wieder schwer.

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Sie hat ihren Frieden gefunden. Das hoffe ich jedenfalls, und ich wünsche es ihr. Ach nein, eigentlich weiß ich es: es ist gut, so oder so.

Danke für Euer Mitgefühl. "Das brauche ich gar nicht" klingt so abweisend, so meine ich es nicht, ich freue mich darüber. Aber tatsächlich empfinde ich es eher als gute Nachricht.

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Liebe Isa, es tut mir leid; auch jenseits der 90 fällt es (mir) schwer, den Tod zu akzeptieren. Dir und Deiner Familie wünsche ich darum umso mehr, dass Du Deine ruhige Gewissheit auch an den nächsten Tagen bewahren kannst.

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Einfach einen Punkt.
Weil es immer wieder schwer ist, etwas dazu zu sagen.

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Schoene Geschichte ueber das Leben im Alter. Da ist so viel noch, moeglicherweise das Eigentliche. Damit es gut war, wenn es zu Ende ist. Danke fuers Erzaehlen.

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Last modified: 06.06.24, 10:52
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Kommentare
Anderthalbfache Unterstützung!
Christl Klein, vor 12 Jahren
Hm, Tempers Kommentar ist ja
schon von 2008 - ich schätze eher nicht, dass...
isabo, vor 13 Jahren
Zettel's Ingo Maurer Hallo,
ich habe Ihren Beitrag zur Zettel's-Lampe gefunden. Da ich sie gerne...
Christiane Thomaßen, vor 13 Jahren
das ist ein hobby
von mir. antizyklisches kommentieren ;)
fabe, vor 13 Jahren
Das hier ist ja
schon eine Weile her. Hihi.
isabo, vor 13 Jahren
hier war ja neulich
stromausfall. menschen sind merkwürdig.
fabe, vor 13 Jahren
endlich endlich setzt jemand ein
Zeichen gegen das ständige Aussterben schöner Wörter! Da bin ich...
federfee, vor 13 Jahren
Lassen Sie doch vielleicht mal
Ihr Assoziationsmodul überprüfen, das spielt ja geradezu verrückt. Das...
isabo, vor 13 Jahren
Oh, vielen Dank!
isabo, vor 14 Jahren
grosses Lob Liebe Isabo,
bin ueber Meike auf Dich gestossen und finde Deine Texte ganz...
LvO, vor 14 Jahren
Der Verein lebe hoch, anderthalb
mal hoch Bin dabei.
Jolen, vor 14 Jahren
Da spricht mir wer aus
der Seele. Ich gebe mir auch schon seit Jahren...
Cuguron, vor 14 Jahren
Ha, wir haben auch nur
Fangen (hieß einfach "fanga") ohne so ein Hintertürchen gespielt....
Irene, vor 14 Jahren
Meiner hat mir nur von
dem Smiley auf seiner Krone erzählt. Und ob ich...
strandfynd, vor 14 Jahren
Bin gerade erst über das
Interview gestolpert - für mich als Auch-Japanisch-Übersetzerin doppelt und...
frenja, vor 14 Jahren
Beide haben Fahnenmasten, der linke
und der rechte Nachbar. Und beide haben die Deutschlandfahnen...
croco, vor 14 Jahren
das hier geht woanders
nicht besser, aber versuch macht kluch...
don papp, vor 14 Jahren
Ja. Ich habe aber erstens
Schimpfe bekommen für dieses wunderschöne, kühle, coole, elegante, heißgeliebte...
isabo, vor 14 Jahren
Sie wissen aber schon,
dass das hier schöner ausschaut?
leavesleft, vor 14 Jahren
Gute Entscheidung. Trennung in beruflich
und privat ist unpraktisch (für alle Beteiligten) und wenig...
textundblog, vor 14 Jahren
Jo. Dann.
isabo, vor 14 Jahren
Möchten Sie es wissen?
kinomu, vor 14 Jahren
alles gute und auf nach
drüben!
skizzenblog, vor 14 Jahren
ja ja ja!!! ES geht
es geht es geht!!! (aber halt ohne Editieren, wurscht!)...
g a g a, vor 14 Jahren
Ich GLAUBE, ich habe
das Captcha- Dings jetzt weggemacht. Kannst Du es nochmal veruschen?
isabo, vor 14 Jahren

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