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Freitag, 21. August 2009
Singaround. Eine kleine Typologie.

„Aus Deutschland, wie interessant, wie heißt Ihr? Wollt Ihr auch was singen?“ – „Wenn ich darf, gerne.“ - „Ich nicht.“
So ein englisches Singaround ist etwas anderes als die Irish/Scottish Folk Sessions, auf denen der Mann sonst mitspielt. Es wird tatsächlich reihum gesungen, es sind unglaublich viele Leute da, viele Sänger und auch erstaunlich viel Publikum. Man kennt sich. Manche haben eine Gitarre oder ein anderes Instrument dabei, andere singen ohne Begleitung. Manchmal spielt auch jemand ein Stück auf der Flöte oder Geige. Manche singen oder spielen grausig schlecht, manche richtig gut. Jeder darf, jeder bekommt Applaus. Und gelegentlich singen alle den Refrain mit, manchmal auch mehrstimmig. Ich hole mir einen Cider und eine Tüte Chips.
Da ist der alte Bauer mit den unfassbar schiefen, vorstehenden Zähnen, der großen Nase und dem fliehenden Kinn. Er spielt rasend fröhliche Melodien auf dem Akkordeon. Später singt er ein albernes Lied über irgendwas mit einem verliehenen Regenschirm, weswegen eine junge Frau beim Erdbeerenpflücken furchtbar nass wird und dann zu dem jungen Mann nach Hause geht, um sich abzutrocknen und die nassen Sachen auszuziehen, und der junge Mann nutzt die Situation schamlos aus und: genau. Isst derweil alle ihre Erdbeeren auf. Er hat keine tolle Stimme, legt aber soviel Witz und Ironie in seinen Vortrag, dass es trotzdem funktioniert. Wenn er spricht, verstehe ich leider wenig. Der Dialekt, die Zähne.
Die Debütanten. Eine unsichere Hausfrau und ihr ebenso unsicherer Mann, sie haben zu Hause ein Stück geübt, er auf der Gitarre, schrumm-schrumm, sie mit der Tin Whistle. So eine Tin Whistle klingt von sich aus nicht gerade schön, man muss sie schon gut spielen. Die Frau tut das nicht, sie spielt wie eine Erstklässlerin, inklusive vergessener Vorzeichen. Das Publikum applaudiert höflich.
Zwei joviale Opas, einer mit übergekämmter Glatze, die Hose bis unter die Achseln gezogen, der wunderbar Mundharmonika spielt, und der andere spielt Gitarre und hat eine sehr schöne Stimme und ein sehr großes Selbstbewusstsein.
Die Diva, die sich für begabter hält als sie ist. Sie singt mit viel Gefühl und viel Show und wenig Stimme.
Der ältere Rollstuhlfahrer, der sein Handicap mit albernen Liedern und einem albernen T-Shirt („Pimp my Ride“) wegzulachen versucht. Die Lieder sind wirklich lustig und seine Stimme sehr gut. In einem Lied geht es darum, dass einer ein Loch gebuddelt hat, das so wunderschön rund ist und tief und genau an der richtigen Stelle für so ein Loch. Es kommt ein „man with a bowler hat“ und hält ihm ein Papier unter die Nase, dass das Loch da nicht sein darf, und wenn schon, dann habe es gefälligst eckig zu sein und nicht so tief, und überhaupt sei es an der ganz falschen Stelle. Der Lochbuddler will es aber rund und tief und an ebendieser Stelle haben, und am Ende ist da kein Loch mehr, und wo das Loch war, ist es jetzt wieder eben und irgendwo darunter liegt a man with a bowler hat.
Ein leicht angeökter Vertreter der Middle Class, der verschiedenste Flöten aus aller Herren Länder spielt und uns eine kleine Improvisation auf einer norwegischen Hirtenflöte flötet. Kommentar aus dem Publikum: „I didn’t even know they had sheep in Norway.“
Die unauffällige Blassblonde mit der umwerfenden Stimme.
Der Schreihals, der zum Singen nicht nur aufsteht, sondern auch noch in die Mitte geht, sehr laut singt, jeden Ton in die Länge zieht, sich immer wieder nach allen Richtungen dreht, damit auch ja jeder alles hört, und bestimmt mit Absicht extralange Balladen ausgesucht hat. Trying too hard.
Der leise Lagerfeuersänger. Das Wort „Schmusebarde“ drängt sich auf.
Die dralle Rotlockige, der man schon von weitem ansieht, wie ansteckend ihr Lachen ist.
Der hochgewachsene ältere Herr, Mitte Siebzig, in kurzen Hosen und Leinenhemd, der dieses unglaubliche Lächeln hat, er strahlt, oder vielleicht grinst er auch, es wirkt ein bisschen unsicher und ungeheuer liebenswürdig. Er spielt Concertina, das sind diese kleinen, sechseckigen Ziehharmonikas, und singt dazu ein Lied vom Brombeerensammeln: Do you think we’ll go / blackberrying / blackberrying / this year? / I’d like to go / blackberrying / with you, my dear. Das Lied ist in Text und Melodie von dermaßen umwerfender Schlichtheit und Schönheit, und ebenso ist sein Vortrag, unprätentiös, ganz einfach, und dadurch so innig, dass ich fast weinen möchte vor Glück. In der Pause fragen wir sofort nach, von wem das Lied ist. Es ist von ihm. Ich brauche noch einen Cider.
Vater und Tochter, die zu den Quakern gehören, wie die Organisatorin berichtet. Der Vater singt Beatleslieder zur Gitarre, die Tochter irgendwas Unbekanntes – wie alt mag sie sein, vierzehn? Sie ist angezogen wie eine Oma und singt, na ja, schon ganz gut.
Der langhaarige, dünne, großflächig Tätowierte, der ein bisschen zu schnell, aber ganz gut Moondance von van Morrison singt.
Das Ehepaar, das in seinem ganzen Auftreten sehr leise und zurückhaltend ist, aber ein bisschen was kann. Sie sind neu in der Gegend und sitzen etwas abseits. Er singt ein unglaublich nettes Lied, dessen Text sinngemäß etwa so geht: „Ich wollte ja eigentlich ein Lied singen, aber weiß nicht, ob ich das noch zusammenkriege. Es ging darin irgendwie um einen Mann und eine Frau, ich weiß nicht mehr genau, was alles passiert ist, jedenfalls war es, glaube ich, Mai. Irgendwie sind die beiden sich nähergekommen, und ich weiß nicht mehr, aber ich glaube, am Ende war jemand schwanger, aber ich bin nicht sicher, wer. Solche Lieder werden ja heute gar nicht mehr geschrieben.“ Sehr schön gemachtes Lied. Als er fertig ist, fragt der alte Herr mit dem Brombeerlied, von wem er das Lied denn habe. Das habe er von einem Herrn namens Suchandsuch gelernt, sagt der Mann. Manche grinsen schon, da sagt einer: das Lied ist vom Brombeermann. Der es sang, ist ganz überrascht. Und ich kann es kaum fassen, dass es dort tatsächlich noch mündliche Überlieferung gibt.

Insgesamt waren wir bei drei solcher Singarounds. Erstaunlich viele Leute singen ihre eigenen Lieder, und die sind wahrhaftig nicht schlecht. John Mathews, den Brombeermann, haben wir noch einmal wiedergetroffen. Inzwischen wussten wir, dass es mal eine CD von ihm gab, und dass sie seit Jahren ausverkauft ist. Er hat extra für mich noch mal das Brombeerlied gesungen. Als ich ihn fragte, ob die Chance bestehe, seine Texte im Internet zu finden, grinste er nachsichtig. Nein, meinte er. Aber er habe natürlich noch das Master von der CD, wenn wir ihm unsere Adresse aufschreiben, könne er uns eine Kopie schicken.
Gestern kam eine E-Mail, er habe die CD losgeschickt.

Nun ist mir, als wäre ich dabei gewese. Bin ganz gerührt.

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Klingt schön, so ein Singaround. Und den Brombeer-Song würd ich ja auch gern mal hören. Ob du eine kleine Lauschprobe hier reinstellen darfst?

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ob wir wohl den brombeersong zu nem kleinen internet-hin machen können, wenn der auf der cd drauf sein sollte?

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Ich weiß jetzt nicht so genau, was ein Internet-Hin ist, aber ich weiß auch nicht, ob ich John fragen möchte, ob es ihm recht ist, wenn ich das Lied ins Netz stelle. Er würde bestimmt ja sagen, weil er so ein freundlicher und höflicher Mensch ist. Und eben deswegen weiß ich nicht, ob es nicht frech wäre, ihn darum zu bitten.
Ich kann mir aber gut vorstellen, dass der lustige Mann den Song übt und vielleicht können wir den dann irgendwo einstellen. Mal überlegen. Schön wäre das schon, ja.

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Last modified: 06.06.24, 10:52
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Kommentare
Anderthalbfache Unterstützung!
Christl Klein, vor 12 Jahren
Hm, Tempers Kommentar ist ja
schon von 2008 - ich schätze eher nicht, dass...
isabo, vor 13 Jahren
Zettel's Ingo Maurer Hallo,
ich habe Ihren Beitrag zur Zettel's-Lampe gefunden. Da ich sie gerne...
Christiane Thomaßen, vor 13 Jahren
das ist ein hobby
von mir. antizyklisches kommentieren ;)
fabe, vor 13 Jahren
Das hier ist ja
schon eine Weile her. Hihi.
isabo, vor 13 Jahren
hier war ja neulich
stromausfall. menschen sind merkwürdig.
fabe, vor 13 Jahren
endlich endlich setzt jemand ein
Zeichen gegen das ständige Aussterben schöner Wörter! Da bin ich...
federfee, vor 13 Jahren
Lassen Sie doch vielleicht mal
Ihr Assoziationsmodul überprüfen, das spielt ja geradezu verrückt. Das...
isabo, vor 13 Jahren
Oh, vielen Dank!
isabo, vor 14 Jahren
grosses Lob Liebe Isabo,
bin ueber Meike auf Dich gestossen und finde Deine Texte ganz...
LvO, vor 14 Jahren
Der Verein lebe hoch, anderthalb
mal hoch Bin dabei.
Jolen, vor 14 Jahren
Da spricht mir wer aus
der Seele. Ich gebe mir auch schon seit Jahren...
Cuguron, vor 14 Jahren
Ha, wir haben auch nur
Fangen (hieß einfach "fanga") ohne so ein Hintertürchen gespielt....
Irene, vor 14 Jahren
Meiner hat mir nur von
dem Smiley auf seiner Krone erzählt. Und ob ich...
strandfynd, vor 14 Jahren
Bin gerade erst über das
Interview gestolpert - für mich als Auch-Japanisch-Übersetzerin doppelt und...
frenja, vor 14 Jahren
Beide haben Fahnenmasten, der linke
und der rechte Nachbar. Und beide haben die Deutschlandfahnen...
croco, vor 14 Jahren
das hier geht woanders
nicht besser, aber versuch macht kluch...
don papp, vor 14 Jahren
Ja. Ich habe aber erstens
Schimpfe bekommen für dieses wunderschöne, kühle, coole, elegante, heißgeliebte...
isabo, vor 14 Jahren
Sie wissen aber schon,
dass das hier schöner ausschaut?
leavesleft, vor 14 Jahren
Gute Entscheidung. Trennung in beruflich
und privat ist unpraktisch (für alle Beteiligten) und wenig...
textundblog, vor 14 Jahren
Jo. Dann.
isabo, vor 14 Jahren
Möchten Sie es wissen?
kinomu, vor 14 Jahren
alles gute und auf nach
drüben!
skizzenblog, vor 14 Jahren
ja ja ja!!! ES geht
es geht es geht!!! (aber halt ohne Editieren, wurscht!)...
g a g a, vor 14 Jahren
Ich GLAUBE, ich habe
das Captcha- Dings jetzt weggemacht. Kannst Du es nochmal veruschen?
isabo, vor 14 Jahren

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