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Donnerstag, 26. Mai 2005
Kunst 2

Na, da haben wir's doch. Nachdem da unten so schön über Kunst diskutiert wurde, bekomme ich nun völlig unerwartet wunderbare Definitionen geliefert: in Jonathan Safran Foers Alles ist erleuchtet wird im kleinen Schtetl Trachimbrod in der Ukraine über Jahrhunderte hinweg das Buch der Begebenheiten geschrieben, in dem die Geschichte des Ortes und seiner Einwohner festgehalten, aber auch Verhaltensregeln und Definitionen aufgestellt werden. Here goes:

"KUNST
Kunst ist das, was nur mit sich selbst zu tun hat – das Ergebnis eines erfolgreichen Versuchs, ein Kunstwerk zu schaffen. Leider gibt es keine Beispiele für Kunst, ebenso wenig wie es gute Gründe gibt zu glauben, dass es sie je geben wird. (Alles Gemachte ist zu einem Zweck gemacht worden, der außerhalb des Gemachten liegt, z.B. Ich will das verkaufen oder Ich will, dass dies mich berühmt und geliebt macht oder Ich will, dass dies mich heil macht oder, schlimmer, Ich will, dass dies andere Menschen heil macht.) Und doch fahren wir fort zu schreiben, zu malen, zu modellieren und zu komponieren. Sind wir deshalb töricht?

STÜCK
Ein Stück ist das, was einen Zweck hat, was aus Gründen der Funktionalität geschaffen worden ist und mit der Welt zu tun hat. Alles ist in irgendeiner Weise ein Stück.

WERK
Ein Werk ist eine Tatsache in der Vergangenheitsform. Zum Beispiel glauben viele, dass Gott nach der Zerstörung des ersten Tempels zu einem Werk geworden ist.

KUNSTSTÜCK
Ein Kunststück ist das, was im Entwurf Kunst und in der Ausführung Stück ist. Sieh dich um. Beispiele finden sich überall.

KUNSTWERK
Ein Kunstwerk ist das Ergebnis eines erfolgreichen Versuchs, aus einer Tatsache in der Vergangenheitsform etwas Zweckloses, Nutzloses, Schönes zu machen. Es kann nie Kunst sein, und es kann nie Werk sein. Juden sind Kunstwerke des Gartens Eden.

STÜCKWERK
Musik ist schön. Seit undenklichen Zeiten haben wir (die Juden) nach einer neuen Sprache gesucht. Oft führen wir die Art, wie wir im Lauf der Geschichte behandelt worden sind, auf schreckliche Missverständnisse zurück. (Worte bedeuten nie das, was sie bedeuten sollen.) Wenn wir durch etwas wie Musik kommunizieren würden, gäbe es keine Missverständnisse, denn in der Musik gibt es nichts zu verstehen. Das ist der Ursprung des Intonierens der Thora und höchstwahrscheinlich auch des Jiddischen, das die lautmalerischste aller Sprachen ist. Es ist auch der Grund, warum die Alten, insbesondere die, welche ein Pogrom überlebt haben, so oft summen, warum sie anscheinend gar nicht aufhören können zu summen und entschlossen zu sein scheinen, keinen Augenblick der Stille, keine linguistische Bedeutung von Stille zu dulden. Doch solange wir diese neue Sprache oder ein nicht bloß annäherndes Vokabular noch nicht gefunden haben, müssen wir uns mit unsinnigen Wörtern behelfen. Stückwerk ist ein solches Wort."
(Ü: Dirk van Gunsteren)

Dann mache ich wohl Kunststücke, hm?

Auch die Übersetzung sehr spannend. Im Englischen heißt
Stück - Ifice
Werk - Ifact
Kunststück - Artifice
Kunstwerk - Artifact
Stückwerk - Ifactifice

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Oh, danke! Das ist nun in der Tat höchst interessant. Denn die Wörter Ifice und Ifact gibt es ja nicht, jedenfalls nicht für sich allein, nur als Suffixe - aber auf Deutsch braucht es keine Wort-Erfindungen, es passt wunderbar mit Stück und Werk und Kunststück und Stückwerk etc.
Stellt sich natürlich die große Frage, ob man das machen kann, wenn im Original Neologismen stehen, die die Abstrusität dieser Definitionen noch unterstreichen, einfach auf Deutsch ganz normale Wörter zu nehmen - ich finde, ja, man kann, es funktioniert ja auf Deutsch viel besser als auf Englisch. Ich finde die Entscheidung großartig und richtig, aber das ist nur meine kleine Privatmeinung. (Und man kann dem Übersetzer gerade bei diesem Buch nun wirklich nicht vorwerfen, zu wenig Neologismen entwickelt zu haben.)
Ha, solche Entscheidungen sind es, die das Übersetzen so interessant machen! Ich bin begeistert!

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Ja, ich finde auch, dass man kann, und besonders dieser Übersetzer. Ich kenne zwar nur kurze Ausschnitte aus dieser Übersetzung, aber sie ist wohl wirklich zum Niederknien. Als ich das Buch las (und vor allem von der Sasha-Sprache völlig fasziniert war), hielt ich es für völlig unübersetzbar.

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[ein bisschen off-topic]
Wie ist denn das eigentlich: Hat jeder Verlag ein Adressbüchlein mit seinen Übersetzern und telefoniert rum, wenn er eine deutsche Ausgabe braucht? Und wie kommen die Namen da überhaupt rein? Oder macht er eine Ausschreibung? Oder wendest du dich auch selbst schon mal an einen Verlag und sagst: "Wie wärs, ich würd das hier gerne mal für euch ins Deutsche übersetzen?" Und gibt es auch "unfreie", sprich: fest angestellte Übersetzer? Würde mich wirklich interessieren, wie man in deinem Metier an seine Aufträge kommt.

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Ich bin gerade völlig entzückt von diesem Übersetzungsbeispiel, ich krieg mich gar nicht mehr ein. Wenn man den englischen und den deutschen Text nebeneinander sähe, würde man vermutlich denken, das Deutsche sei das Original und das Englische die Übersetzung - die mit Neologismen arbeiten muss, weil diese großartige deutsche Spielerei mit Stück und Werk und Stückwerk etc. auf Englisch eben nicht funktioneirt.
Damit will ich nun keineswegs behaupten, die Übersetzung sei "besser" als das Original, nur zeigt es eben, wie unterschiedlich Original und Übersetzung sein können, und dass in der Übersetzung nicht zwangsläufig etwas verlorengehen muss, sondern auch etwas Neues oder einfach Anderes hinzukommen kann. Vielleicht beantwortet es auch die Frage von ichichich weiter unten, wieso zwei Übersetzungen desselben Texts so unterscheidlich ausfallen können.

@bluesky: Antwort kommt, da mach ich glatt einen eigenen Eintrag für.

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Den vollständigen englischen Text dieser Stelle findest du übrigens bei Amazon.com. Buch suchen und aufrufen, dann unter "search inside this book" ein Stichwort eingeben (z.B. ifactifice). Aber das wusstest du vielleicht schon.

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Kommentare
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Christl Klein, vor 11 Jahren
Hm, Tempers Kommentar ist ja
schon von 2008 - ich schätze eher nicht, dass...
isabo, vor 12 Jahren
Zettel's Ingo Maurer Hallo,
ich habe Ihren Beitrag zur Zettel's-Lampe gefunden. Da ich sie gerne...
Christiane Thomaßen, vor 12 Jahren
das ist ein hobby
von mir. antizyklisches kommentieren ;)
fabe, vor 12 Jahren
Das hier ist ja
schon eine Weile her. Hihi.
isabo, vor 12 Jahren
hier war ja neulich
stromausfall. menschen sind merkwürdig.
fabe, vor 12 Jahren
endlich endlich setzt jemand ein
Zeichen gegen das ständige Aussterben schöner Wörter! Da bin ich...
federfee, vor 12 Jahren
Lassen Sie doch vielleicht mal
Ihr Assoziationsmodul überprüfen, das spielt ja geradezu verrückt. Das...
isabo, vor 13 Jahren
Oh, vielen Dank!
isabo, vor 13 Jahren
grosses Lob Liebe Isabo,
bin ueber Meike auf Dich gestossen und finde Deine Texte ganz...
LvO, vor 13 Jahren
Der Verein lebe hoch, anderthalb
mal hoch Bin dabei.
Jolen, vor 13 Jahren
Da spricht mir wer aus
der Seele. Ich gebe mir auch schon seit Jahren...
Cuguron, vor 13 Jahren
Ha, wir haben auch nur
Fangen (hieß einfach "fanga") ohne so ein Hintertürchen gespielt....
Irene, vor 13 Jahren
Meiner hat mir nur von
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strandfynd, vor 13 Jahren
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Interview gestolpert - für mich als Auch-Japanisch-Übersetzerin doppelt und...
frenja, vor 14 Jahren
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croco, vor 14 Jahren
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don papp, vor 14 Jahren
Ja. Ich habe aber erstens
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isabo, vor 14 Jahren
Sie wissen aber schon,
dass das hier schöner ausschaut?
leavesleft, vor 14 Jahren
Gute Entscheidung. Trennung in beruflich
und privat ist unpraktisch (für alle Beteiligten) und wenig...
textundblog, vor 14 Jahren
Jo. Dann.
isabo, vor 14 Jahren
Möchten Sie es wissen?
kinomu, vor 14 Jahren
alles gute und auf nach
drüben!
skizzenblog, vor 14 Jahren
ja ja ja!!! ES geht
es geht es geht!!! (aber halt ohne Editieren, wurscht!)...
g a g a, vor 14 Jahren
Ich GLAUBE, ich habe
das Captcha- Dings jetzt weggemacht. Kannst Du es nochmal veruschen?
isabo, vor 14 Jahren

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