David Grossman (Anne Birkenhauer): Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Das zweite Kapitel fängt so an: Stotternd schlängelte sich die Kolonne aus Zivilfahrzeugen, Jeeps, Militärkrankenwagen, Panzern und riesigen Bulldozern auf Transportern dahin. Der Taxifahrer, mit dem sie fuhren, war still und grimmig, seine Hand lag auf dem Schaltknüppel des Mercedes, sein breiter Nacken bewegte sich nicht, und schon mehrere Minuten hatte er weder sie noch Ofer angeschaut.
Bereits beim Einsteigen hatte Ofer wütend die Luft durch die Lippen gepresst, und sein Blick sagte, das war aber eine tolle Idee, Mama, ausgerechnet ihn für diese Fahrt zu rufen, und erst da begann sie etwas zu begreifen – um sieben Uhr früh hatte sie Sami angerufen, er möge bitte kommen, er solle sich auf eine lange Fahrt einstellen, in die Gegend des Berges Gilboa.
Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Die Frau heißt Ora, und eigentlich wollte sie mit ihrem erwachsenen Sohn Ofer zusammen eine Wanderung durch Galiläa machen, eine Woche lang, zur Feier seiner Entlassung aus der Armee. Jetzt muss Ofer aber doch noch mal hin, in den Krieg. Und Ora flieht, sie flieht vor der Nachricht, dass er gefallen ist. Von dem Moment an, da Ofer nicht mehr zu Hause ist, hält sie es dort nicht mehr aus, weil sie dauernd damit rechnen muss, dass „sie“ kommen, um ihr diese Nachricht zu überbringen. Zum Überbringen einer Nachricht gehören aber immer zwei: einer, der sie überbringt, und einer, der sie empfängt. Wenn Ora einfach nicht da ist, dann kann die Nachricht auch nicht überbracht werden. Sie beschützt ihren Sohn sozusagen, indem sie nicht da ist. Und so macht sie die geplante Wanderung trotzdem, und zwar zusammen mit ihrem Jugendfreund Avram. Und auf dieser Wanderung reden sie miteinander.
Es geht um eine Frau zwischen zwei Männern, und mit zwei Söhnen noch dazu, also sozusagen zwischen vier Männern, und um die komplizierten Beziehungen zwischen diesen fünf Personen – eine sehr intime, persönliche, familiäre Geschichte, in der sich aber die große Politik spiegelt. Anders gesagt: in der der ewige Krieg in Israel, wie wahrscheinlich in den meisten israelischen Familien, eine furchtbare Rolle spielt und die Beziehungen und die Leben aller verändert. Und es geht um Leidenschaft, ebenso um leidenschaftliche Liebe wie um leidenschaftliche Angst, um sich selbst und um andere, bis zur völligen Unvernunft und Panik.
Es ist grausam und grauenhaft, natürlich, und es ist wahnsinnig gut. Ein sensationelles Buch, unglaublich intensiv, 728 Seiten lang, und zwar große und sehr vollgeschriebene Seiten, und es ist kein Wort zu viel. Ich habe ja normalerweise eher Angst vor so dicken Büchern, aber dies wurde mir keine Sekunde zu lang. Anne Birkenhauers Übersetzung ist, ich möchte fast sagen: makellos (Tippfehler zählen nicht). Ich ziehe tief meinen Hut vor dem Autor wie auch der Übersetzerin. Sie haben gemeinsam den Albatros-Literaturpreis bekommen, David Grossman erhält dieses Jahr außerdem den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, und das freut mich sehr. Und Euch lege ich dieses Buch ans Herz. Das ist ein Buch, das bleibt. Und das einen dankbar macht, in Frieden zu leben.
David Grossman bekommt einen Regalplatz zwischen Grimmelshausen und Klaus Groth.
Gestern habe ich gehört, es gebe da ein Luxushotel auf Sylt, dessen Bibliothek von Elke Heidenreich eingerichtet wurde. Nun teile ich Frau Heidenreichs Buchgeschmack nicht unbedingt, und ich weiß natürlich auch nicht, ob sie wirklich einzeln und von Hand Bücher ausgewählt hat, oder ob das jemand anderes war und sie nur hinterher ihren Namen druntergesetzt hat.
Aber. Was für ein Traumjob! Es war mir noch nie in den Sinn gekommen, dass ja jemand so was tun muss. Liebe Hotels und sonstige Institutionen: ich bin Eure Frau! Ich würde wundervolle Bibliotheken zusammenstellen, ganz nach Ihren Wünschen. Einige Klassiker natürlich, aber auch viel Aktuelles, die Must-haves ebenso wie ein paar obskure Titel (sodass die Gäste denken: oh, da war jemand mit Sachverstand am Werk). Selbstverständlich würde ich auch einiges von unabhängigen Kleinverlagen kaufen. Eine gute Mischung aus deutschen Originalen und übersetzter Literatur, den ein oder anderen Titel auch auf Englisch, auf Wunsch auch ein wenig Französisch, Spanisch, Italienisch, andere Sprachen. Ich würde keine gesammelten Werke anschaffen, keinen halben Meter Goethe in Blau, sodass am Ende eine Möbelhausdekoration daraus wird. Nein, ich richte Ihnen eine richtige Bibliothek ein, eine Bibliothek von einer Leserin für Leser, die aussieht wie ein gewachsener Buchbestand. Selbstverständlich gäbe es auch eine Sektion mit hochwertigen Bildbänden, die Bibliothek würde sehr schön aussehen. Keine Reklamhefte, wenig Taschenbücher, viel Gebundenes. Natürlich an das Gästeprofil angepasst, ich wähle nicht nur nach meinem eigenen Geschmack aus, sondern denke auch an Krimi- und Chick-Lit-Leserinnen und an Sachbuchleser. Natürlich kann ich auch Bibliotheken mit bestimmten thematischen Schwerpunkten einrichten. Hätten Sie es gern amerika- oder asienlastig? Besonders viel Literatur über das Meer? Die Ecke mit den Kinderbüchern etwas umfangreicher? Alles kein Problem.
Ich betreue die Bibliothek auch gern weiterhin, suche monatlich oder vierteljährlich die schönsten und interessantesten Neuerscheinungen raus, alles im festgelegten Preisrahmen natürlich. Ach, das wird toll, ich gerate schon richtig in Begeisterung, kann mir bitte jemand einen solchen Auftrag erteilen? Ich komme vorbei, gucke mir die Räumlichkeiten an, messe die Regalmeter aus (natürlich kann ich auch bei der Auswahl der Möbel behilflich sein, wenn Sie dafür nicht auf einem Innenarchitekten bestehen) und rechne hoch, was es kostet, diese Regalmeter mit Büchern zu bestücken.
Und dann gehe ich einkaufen. Die entsprechenden Kontakte habe ich ja. Ich kenne Buchhändler, Versandbuchhändler, Kleinverleger, Lektoren und Presseleute in Großverlagen und so weiter. Ich bin ja nicht nur Leserin.
Zu guter Letzt gehören in so eine Bibliothek ja auch Lesungen, und Lesungen organisiere ich nun wirklich schon seit Jahren und habe reichlich Kontakte zu Autoren und Übersetzern (Übersetzer machen tolle Lesungen, sie können ganz anders über Bücher sprechen als Autoren), von der flotten Krimiautorin über den Sachbuchübersetzer bis zur Buchpreisnominierten.
Hach. Das wird schön.
Im Februar habe ich hier einen Spendenaufruf für eine Kollegin veröffentlicht, die nach vielen langen Krankenhausaufenthalten in den letzten zehn Jahren so verschuldet war, dass sie es allein nicht mehr geschafft hätte. Die Sammlung fand vor allem im Kollegenkreis statt, es haben sich aber auch erstaunlich viele Blogleser beteiligt – ohne die Kollegin zu kennen, teilweise kennt Ihr ja nicht mal mich. Das war überwältigend, und ich danke Euch sehr.
Insgesamt sind 10.924,10 € zusammengekommen, eine unglaubliche Summe. I. hätte sich sehr gern bei jedem einzeln bedankt. Ich hatte ihr eine Liste der Spender geschickt (ohne die Beträge zu nennen), sie hat auch angefangen, einzelne Mails zu schreiben, aber dann wurde bei ihr ein Melanom im Auge diagnostiziert, und sie konnte nicht mehr am Monitor schreiben. Das war Anfang April, und seitdem kam bald jede Woche eine neue Hiobsbotschaft. Schnell war klar, dass der Krebs bereits im ganzen Körper saß.
Vorgestern hatte sie Geburtstag. Eine andere Kollegin war bei ihr und berichtet, es sei viel Besuch dagewesen, alle hätten Rosen mitgebracht, und sie habe einen schönen Tag gehabt. Gestern früh ist sie gestorben.
I. hat sich bis zum Schluss auf bewunderswerte Weise ihren Humor bewahrt. Und Eure Spenden und Euer Zuspruch haben ihr in den letzten Monaten viele Sorgen genommen und ihr das Leben etwas erleichtert. Die Nachricht von ihrem Tod kommt für mich nicht überraschend, aber ich bin traurig. Gute Reise, Kleine.
Mehr zum Buchpreis gibt es hier, Leseproben aller nominierten Bücher auf Libreka.
Ich habe nur ein einziges davon gelesen (Kristof Magnusson), und Mariana Leky steht immerhin schon lange auf meinem Wunschzettel. Vom Rest habe ich teilweise nicht mal gehört. Da simmer jetzt gespannt.
Übermorgen ist der offizielle Erscheinungstermin, angeblich liegt es aber schon in den Läden: "TIERE ESSEN" von Jonathan Safran Foer, übersetzt von Brigitte Jakobeit, Ingo Herzke und mir.
Die Presse überschlägt sich, und ich werde dann auch noch ein paar Zeilen darüber schreiben. Hier erstmal die gesammelten Artikel, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wird laufend aktualisiert.
Der Roman beginnt so: Sie ist meine Nachbarin. Seit Jahren leben wir im gleichen Stockwerk. Ab und zu stoßen wir gemeinsam unsere schweren Schlüssel in die Gründerzeittüren. Dann verschwinde ich in meinem Hausflur, einem langen, schmalen Schlauch, belegt mit gelbem Hanf, kaum einen Meter breit. Und sie in ihrem, mit den noch im Einheitsbraun der vierziger Jahre gestrichenen Dielen. Die Farbe ist scheußlich. Matt glänzend und kaum zu entfernen, ähnelt sie dem Kot, den die Schäferhunde hier aufs Pflaster werfen, wenn sie von ihren Besitzern mit rostfarbenen Fertigfutterklumpen ernährt werden.
Seit einer Woche ist es still im Seitenflügel des ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses in der Lehniner Straße, den wir als einzige noch bewohnen, sie und ich.
Die Nachbarin mit dem Namen Dunkel ist plötzlich nicht mehr da. Die Erzählerin bricht aus reiner Neugier in ihre Wohnung ein, mal nachsehen, ob sich da ein Hinweis auf ihren Verbleib findet. Sie selbst lebt illegal in dem abbruchreifen Haus, Dunkel ist die letzte legale Mieterin.
Die Erzählerin selbst heißt Hell und ist „die Schattenboxerin“, denn sie betreibt eine asiatische Kampfsportart. Über diese kleine Albernheit kann man allerdings ganz gut hinwegsehen, zumal man sie eh nur aus dem Klappentext weiß, im Text selbst wird der Name erst spät und auch nur einmal genannt. Ob er stimmt oder ob er an der Stelle ein Scherz sein soll, ist nicht mal klar.
Plötzlich steht ein Mann in Dunkels Wohnung, der sie ebenfalls sucht. Und dann entwickelt sich eine veritable Räuberpistole von Geschichte, deren Eckdaten man leider ebenfalls nicht erst aus dem Buch erfährt, sondern schon im Klappentext serviert bekommen hat. Wie oft habe ich mir nun schon vorgenommen, keine Klappentexte zu lesen? Waah! Nützt es was, wenn ich hier nichts ausplaudere und Euch sage, „lest den Klappentext nicht“? Tut Ihr das dann wirklich nicht? Natürlich liest man den Klappentext, verdammte Axt! Wie mich sowas aufregt! Mann!
Lieber Schöffling-Verlag, da das Buch ja nicht mehr so ganz neu ist (1999), nehme ich an, Ihr habt den Klappentextschreiber inzwischen gefeuert, ja? Gut.
Wo war ich? Das ist nämlich ein tolles Buch. Vor allem, wenn man den Klappentext nicht gelesen hat. Sehr viel heruntergekommene Berlinstimmung um die Zeit des Mauerfalls, ohne dass der besonders thematisiert würde. Spannend zu lesen, dabei wird sehr ruhig erzählt, es spricht eine erstaunliche Gelassenheit aus der Erzählerin, zu der sie eigentlich keinen rechten Grund hat. Dicke Leseempfehlung, schon wieder!
Inka Parei bekommt einen Regalplatz zwischen Orhan Pamuk und Dorothy Parker.
Neulich war ich mal überhaupt nicht fit und well, sondern hatte Rücken. An dem betreffenden Sonntag lag ich auf demselben, statt Kubb zu spielen, Montag war es ein kleines bisschen besser, aber noch überhaupt gar nicht gut, und so blieb es bis Mittwoch. Da ich am Donnerstag für vier Tage verreisen wollte, passte mir das gar nicht. Ich habe hin- und herüberlegt, ob ich die Reise absage, ob ich einen Koffer tragen kann, dass ich ihn jedenfalls sicher nicht ins Gepäcknetz heben kann, ob ich es mir antue, drei Tage auf Stühlen zu sitzen und Vorträge zu hören und zu workshoppen – und dann habe ich mir für Donnerstag Morgen kurzentschlossen einen Termin bei einer Osteopathin geben lassen.
Was ich über Osteopathie gehört hatte, war, dass das total toll sei und bei verschiedensten Leuten Wunder gewirkt habe und bei Rückentheater nichts so gut helfe wie Osteopathie. Was ich nicht gehört hatte, war, was das überhaupt ist. Ich erwartete irgendwas zwischen Krankengymnastik und Massage.
Tatsächlich musste ich mich erstmal ausziehen, und die behandelnde Dame betrachtete mich eine Weile von hinten. Dann musste ich mich auf eine Liege legen, auf den Rücken, und sie schob mir die Hände unter den Rücken. Und dann lag ich da auf ihren Händen. Minuten später verschob sie eine Hand ein wenig. Ich fragte, was denn da jetzt passiert, was sie da macht, da sagt sie, sie behandelt mein Zwerchfell, denn wenn das verspannt ist, verspannt alles, oder so ähnlich. Ich fühlte mich gründlich verarscht, denn sie behandelte ja gar nichts, sondern sorgte im Gegenteil noch dafür, dass ich mit meinem schmerzenden Rücken schief auf ihren Händen lag, und das weiß sogar ich, dass man, wenn man eh schon verzogen ist, nicht auch noch schief auf was draufliegen darf. Irgendwann nahm sie ihre Hände unter meinem Rücken weg und ging an meine Füße, legte mir die Hände an die Füße, an die Waden, ließ sie jeweils minutenlang dort liegen. Kein Druck, keine Massage, gar keine Bewegung, nur Berührung. Meine Füße sind ziemlicher Schrott, der Fachmann sagt Hallux Valgus, ich sage: aua. Und zwar aua-aua-aua. Nicht von der Osteopathie, sondern immer, vom Laufen, vom Nichtlaufen, vom Schuhetragen, und vom Barfußgehen erst recht.
Zum Schluss betrachtete sie mich wieder von hinten und meinte: schon viel besser. Und dass meine Rückenprobleme von den Füßen kämen, weil ich da eine Schonhaltung einnehme und irgendwie schief und krampfig gehe, und das pflanze sich fort nach oben, ins Becken und dann in den Rücken. Das war das erste, was sie wirklich sagte, und das erste, was mir plausibel vorkam.
Aber die Behandlung selbst war wirklich ein Witz. Ich sollte allerdings im Ernst dafür bezahlen, und zwar gar nicht so wenig.
Nachmittags nahm ich meinen Koffer, zog ihn die meiste Zeit zwar hinter mir her, trug ihn aber auch Treppen rauf und runter und in den Zug und wieder raus und quer durch Göttingen und hob einen anderthalbjährigen Wonneproppen hoch und setzte ihn runter und wieder und wieder und trug ihn ein Stück und spielte mit ihm und hockte auf dem Boden im Sand und beugte mich runter und versuchte noch aus Gewohnheit, das alles ein bisschen vorsichtig zu machen, aber es ging wunderbar und war gar kein Problem. Und am nächsten Tag fuhr ich von Göttingen nach Wolfenbüttel zur Tagung und verschwendete dort keinen einzigen Gedanken mehr an meinen Rücken, denn da war kein Schmerz, nirgends.
Moritz Rinke: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel
Der Roman beginnt so: Seine Kindheit, das hatte die Baufirma Brüning auch gar nicht mehr zu beschönigen versucht, würde in der Mitte auseinanderbrechen, eher früher als später, in zwei Teile.
Der Westflügel, in dem er mit seiner Mutter und ihrer übermächtigen Liebe groß geworden war, mit seinem Großvater, dem Bildhauer, den man den Rodin des Nordens nannte, sowie seiner Großmutter, die jeden Tag norddeutschen Butterkuchen backte – dieser Westflügel des Hauses würde zuerst absacken und im Teufelsmoor untergehen. Dabei würde sich der Ostflügel, in dem der Rest der Familie gelebt hatte, gleichzeitig in die Höhe heben, bis das ganze Haus in der Mitte in zwei Stücke breche. Und dann würde der Ostflügel zurück in den Schlamm fallen und vermutlich früher oder später auch dieser Teil der Familie Kück herabsinken – mit seinen sommersprossigen Johans, den blauäugigen Hinrichs, den Milchkühen und Mördern, dem Schnaps und dem schönen, strohblonden Bauernmodell Marie, das noch heute auf dem Bild eines alten Worpsweders wie ein Gespenst erschien.
Von der einst unübersichtlich großen Familie sind nicht mehr viele übrig; Paul lebt in Berlin und versucht erfolglos, eine Galerie zu etablieren, seine Mutter lebt auf Lanzarote, gibt dort Bewusstseinsseminare und schickt ihm ständig Salat mit der Post, damit er in der vitaminlosen Großstadt etwas Gesundes zu essen bekommt, und im riesigen alten Bauernhaus in Worpswede lebt nur noch Nullkück, der ein bisschen zurückgeblieben ist. Jetzt sackt das Haus ab, und Paul muss hin und sich darum kümmern, dass es neu gegründet wird. Wände einreißen, tief bohren, Beton reingießen.
Eine Reise zurück in die Vergangenheit also, mit reichlich Rückblicken und Erinnerungen, und Moritz Rinke schöpft aus dem Vollen: Nullkück wirft in seiner Jugend vom fahrenden Trecker Liebesbriefe ab, ein veritables Duell geht schief, ein zurückgewiesener Liebhaber klaut den Güllewagen der Nachbarn, die schöne Marie wurde von der Gestapo abgeholt, weil sie Kommunistin war (heißt es), die unfruchtbare Hilde bekommt doch noch ein Kind, außerdem geben sich Willy Brandt und Rainer Maria Rilke bei den Kücks quasi die Klinke in die Hand (das mit Willy Brandt ist durch ein von ihm angebissenes Stück Butterkuchen im Tiefkühler belegt, von Rilke gibt es einen Topf), einer geht nur bei Regen in den Puff und trinkt dort Fencheltee, und bei den Grabungen ums Haus wird Erstaunliches ausgebuddelt, während gleichzeitig die lebensgroßen Bronze-Skulpturen berühmter Männer, die der Großvater angefertigt hat, im Moor versinken. Und alles andere ist auch nicht unbedingt so, wie es aussieht.
Was für ein Buch! Da wird nicht gekleckert, da wird geklotzt und mit Material geprasst, das einem anderen womöglich für vier Romane gereicht hätte. Nichts ist zu grotesk, man muss anfangs oft lachen, und später, man ahnt es schon, ist das natürlich alles gar nicht witzig. Und erfreulicherweise ist am Ende auch nicht alles geklärt. Ich bin jetzt jedenfalls offiziell in Moritz Rinke verliebt und verzeihe ihm sogar ein paar fehlende Genitive und dies und das. Und ich will jetzt unbedingt mal nach Worpswede. Himmel gucken und so. Und mal nachsehen, was tatsächlich vor der großen Kunstschau steht. Und was drinhängt. Lest dieses Buch! Toll, toll, toll.
Danke an Annerose Beurich von stories! für die Empfehlung und für den Satz „man wünscht sich beim Lesen dauernd, dass Detlev Buck das verfilmt“, denn genau so ist es. Und Buck selbst soll den Nullkück spielen.
Moritz Rinke wohnt im Regal zwischen Monika Rinck und Meg Rossoff.
Der Roman beginnt so: Kupido Kakerlak kroch nicht auf die übliche Weise aus dem Mutterleib, sondern schlüpfte aus den Geschichten, die sie erzählte. Vielerlei Gestalt nahmen sie an, diese Geschichten. In einer hieß es, seine Mutter sei Jungfrau und riemendünn, und niemand habe auch nur geahnt, dass sie schwanger war. Bis der kleine Kümmerling da war. Ein andermal sagte man, sie sei seltsam lange recht deutlich schwanger gewesen, habe einen richtig dicken Bauch gehabt, drei oder vier Jahre lang, ehe dann der Berg eine Maus gebar. Je nachdem, wie sie gelaunt war und in welcher Phase der Mond gerade stand, behauptete sie, es sei gar nicht ihr Kind, sondern einfach von einem Fremden, der zufällig des Nachts vorbeigekommen sei und dessen Gesicht sie nie gesehen habe, in ihrer Hütte abgelegt worden, gleich nach der Geburt; die Nachgeburt habe noch an der Nabelschnur gehangen.
Es ist um 1760. Der Kümmerling Kupido Kakerlak wächst bei seiner Mutter, einer schwarzen Kontraktarbeiterin, auf dem Hof eines weißen Farmers in Südafrika heran. Eines Tages kommt ein fliegender Händler vorbei, dem er sich anschließt; er zieht einige Jahre mit ihm durchs Land und findet nach einem ausschweifenden Leben mit reichlich Frauen und Alkohol schließlich zum christlichen Glauben und schwört der Sünde ab. Kupido Kakerlak lernt in einer Missionsstation Lesen und Schreiben und wird der erste schwarze Missionar Südafrikas. Eine historische Figur, eine wahre Geschichte, wenn auch literarisch aufbereitet, im Nachwort heißt es: „Wiewohl der Roman in seiner vorliegenden Form fiktional ist, beruht er in den wesentlichen Grundzügen auf einer wahren Geschichte.“ Die übrigen (weißen) Missionare beispielsweise sind alle recht gut dokumentiert, Kupido selbst nicht ganz so gut, aber doch auch. Nur am Ende hat der Autor Kupidos tatsächliche Lebensgeschichte ein wenig abgeändert, aus, wie er schreibt „erzählerischen Gründen“, die ich allerdings nicht ganz nachvollziehen kann. Ich meine, man hätte gut bei der Wahrheit bleiben können, aber das mag Ansichtssache sein.
Erzählt wird im ersten Teil von einem allwissenden Erzähler, im zweiten Teil vom Missionar Reverend James Read, am Ende schließlich wieder vom Erzähler, sodass wir zwischen magischem Realismus und frommem Salbadern schwanken. Das salbungsvolle Geschwurbel des Missionars ist außerdem mit reichlich historischen Fakten über die politische Situation in Südafrika am Beginn des 19. Jahrhunderts gespickt; die Gemengelage zwischen Hottentotten, Buschmännern, Khoi, Xhosa, Missionaren, Kolonisten, vertriebenen Farmern, entlaufenen Sklaven, Engländern und Holländern ist nicht ganz einfach zu durchschauen. Ich fand diesen Teil stellenweise ein wenig anstrengend zu lesen, aber das liegt natürlich in der Person des Missionars und der politischen Situation begründet und passt von daher schon.
Mit dem magischen Realismus des ersten Teils kam ich überraschenderweise viel besser zurecht als ich dachte. Naturgeister und so was sind nicht gerade mein Thema, aber hier konnte ich sie gut haben, sie gehören hierhin, sie sind selbstverständlich, und ich bringe ihnen deutlich mehr Verständnis und Wohlwollen entgegen als der Frömmelei und diesem verdrehten Gedanken „Gott hat uns all das Leid geschickt, um unseren Glauben zu stärken“. Andererseits tut die Kirche hier tatsächlich auch Gutes – die Zweischneidigkeit des Missionierens tritt sehr schön zutage, ohne dass irgendetwas gewertet würde.
Ich habe das Buch von der Übersetzerin geschenkt bekommen, weil sie es so sehr liebt. Meine Begeisterung ist nicht ganz so überschäumend wie ihre, aber ich kann sie irgendwie nachvollziehen. Dieser Kupido Kakerlak ist eine faszinierende Person – manchmal möchte man ihn packen und schütteln, damit er zur Besinnung kommt, und genauso oft muss man ihn bewundern. Ebenso wie den Rest der Missionare. Und ich denke auch Tage später noch über Glauben und Aberglauben nach und über Sinn und Unsinn von Missionierungen.
André Brink bekommt einen Regalplatz zwischen Jean Anthèlme Brillat-Savarin und Charlotte Brontë.
hier ist mal eine Weile Schweigen. Ich hab kein Internet. Aechz.
Dafuer aber schon acht Seiten Blogeintraege vorgeschrieben, nur eben, jaja. Kriegt Ihr spaeter.
Miriam Koch: Keentied oder Die Kunst, ins Glück zu fliegen
Keentied kommt zu spät, er hat den Abflug seines Schwarms verpasst. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als es allein zu versuchen – das geht schief, er kommt nicht voran, dann gerät er auch noch in einen Sturm, und am Ende passiert genau das, was man erwartet. Die Geschichte ist, anders ausgedrückt, ein wenig schlicht.
Aber! Die Illustration ist dafür umso schöner. Große Flächen Blau, ohne Rand, viel Himmel, viel Meer. Und etwas Grau, von den Holzstegen und vom Schiff. Und ein bisschen Beige-Gelb, vom Strand. Und Blau und Blau und Blau. Und zwischendrin sind Fotos eingearbeitet, das Meer, kleine Inseln. Und viel Blau. Und ganz selten ein klitzekleiner Klecks Rot, das ist der Leuchtturm.
Meine neue "offizielle" Seite, auf der ich mich beruflich präsentiere. Die Titel-Kolumnen sind jetzt dort, außerdem das erste Kolleginneninterview und ein-zwei Kleinigkeiten. Im Laufe der Zeit sollen Vorstellungen meiner Bücher mitsamt ein paar kleinen Textauszügen dazukommen - schaumermal, was das so alles wird. Am Layout wird sicher auch noch dies und das passieren.
Ganz herzlichen Dank an die Familien Diedrich und Buddenbohm für dieses tolle Geburtstagsgeschenk!
Beim Titel-Magazin hat es ein bisschen gerumpelt. Ein großer Teil der Redaktion ist zurückgetreten und einige Beitragsschreiber mit, unter anderem ich. Meine Kolumnen sind bereits offline. Es soll aber etwas Neues geben, hoffentlich schon bald.
Liebe renommierte Medien: ich hätte dann jetzt „Kapazitäten frei“. Und ein paar 1 A erprobte Superkolumnen übers Übersetzen, die im Moment nirgends veröffentlicht sind. Ich kann aber auch quasi beliebige andere Themen.
Auf diesen kleinen Roman bin ich wegen einer hymnischen Rezension gestoßen. Die war so toll, dass ich sogar hier im Blog darauf hingewiesen habe, da schrieb nämlich Stefan Beuse im Titel-Magazin:
Wenn das also alles ist, geht’s darum auch in Chris Killens wundervoll spleeniger, herzzerreißend neurotischer und abgrundtief trauriger, schräg-schöner Liebesgeschichte Das Vogelzimmer. Aber auf diesen gerade mal 170 Seiten stehen Sätze, die den Himmel aufreißen lassen, die einen schluchzen machen können vor Glück. Dieser Sprachkosmos ist durchweht von einem ganz eigenen Zauber, der einen so packt, dass die Liebesgeschichte auch auf „technischer“ Ebene funktioniert: Man kann sich als Leser ganz und gar in dieses Buch verknallen, und spätestens an dieser Stelle muss Henning Ahrens für seine Übersetzung gedankt werden, die so unglaublich gut ist, dass man froh ist, nicht den Originaltext daneben zu haben – einfach aus Angst, er könne nicht dieses magische Fluidum aufweisen, diesen sehr speziellen untergründigen Humor, diese Lebensklugheit und Größe.
Erstens kann mich eine solche Übersetzerhuldigung natürlich sowieso schon dazu bringen, ein Buch zu lesen, zweitens kenne ich den Herrn Beuse und habe seine Empfehlungen bisher gern gelesen.
Äh, Stefan? Was ist denn da passiert? Wo sind die Sätze mit dem magischen Fluidum, die den Himmel aufreißen lassen? Wo ist der Sprachkosmos? Ich sehe nur Sätze, die aus Subjekt, Prädikat, Objekt bestehen und nichts weiter. Fast ausschließlich solche Sätze, 170 Seiten lang, das erträgt doch kein Mensch.
Und sich in das Buch verknallen, nun ja, Geschmäcker sind ja verschieden, ich war jedenfalls zunehmend genervt. Die Figuren waren mir auch völlig egal, und wenn ich mich weder in die Figuren verknallen kann noch in die Sprache, dann bleibt nicht viel. Die Vögel vielleicht, aber die kommen ja nur auf den ersten paar Seiten vor, und dann ist unvermittelt Schluss mit Vögeln. Pun intended.
Der Roman beginnt so: Gemälde kleiner Vögel. Zaunkönige, Rotkehlchen, Wellensittiche (ziemlich viele Wellensittiche). Alle leuchtend gelb, rot, braun, grün, ausgenommen die Taube. Die Taube ist grau.
Ich sitze auf dem Sofa. Sie sitzt neben mir. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen. Zwischen uns ist ungefähr so viel Platz. Will kocht uns in der Küche einen Tee. Die beiden sind sich hier zum ersten Mal begegnet. Die Idee stammt von mir.
Der Künstler Will (der mit den Vögeln) lernt also Alice kennen, und „ich“, Alices Freund, ist eifersüchtig. „Ich“ heißt zufällig ebenfalls Will. Und dann gibt es noch Helen, die früher Clair hieß. Alles klar? Ich-Will und Alice gehören zusammen, Künstler-Will und Helen gehören noch lange nicht zusammen, aber das soll noch werden, oder auch nicht. Erstmal lernen Künstler-Will und Alice sich kennen und Ich-Will platzt vor Eifersucht. Und am Ende gibt es, wie der Klappentext verspricht, eine überraschende Wendung, die genau die ist, mit der man die ganze Zeit rechnet, die aber trotzdem irgendwie wirr und nicht wirklich verständlich ist.
Es sind ein paar schöne Ideen drin, ja. Aber mir sind die Figuren alle zu krank. Ich will nichts über Paranoiker lesen, das ist mir irgendwie zu simpel, es ist so überzeichnet, dass ich die Figuren nicht ernst nehmen kann. Vor allem dann, wenn nicht eine, sondern sämtliche Figuren Psychopathen sind und niemand auch nur ansatzweise "normal". Wer ein wirklich tolles Buch über rasende Eifersucht lesen möchte, dem empfehle ich Der Ursprung der Welt von Jorge Edwards. Das ist große Eifersuchtskunst. (Und außerdem eins der schönsten Buchcover aller Zeiten.)
Beuse beginnt seine Rezension mit einem Hinweis auf das in der Tat schnarchlangweilige Buch „Dshamilja“ von Tschingis Aitmatov, von dem Luis Aragon (und seither jeder Vermarkter) behauptet: „Ich schwöre, das ist die schönste Liebesgeschichte der Welt“. Und er schließt mit dem Satz: Bevor Rückseitentextverfasser das nächste Mal leichtfertig etwas schwören, sollen sie bitte dieses Buch lesen.
Also, das Vogelzimmer jetzt.
Ich hingegen räume das Vogelzimmer mit demselben Gefühl ins Regal, mit dem ich auch vor Ewigkeiten Dshamilja weggeräumt habe, nämlich: äh, was war das denn? Ich habe außerdem gar keine Liebesgeschichte gelesen, sondern eine Pychopathengeschichte. So gesehen ist die sprachliche Fürchterlichkeit auch wieder angebracht, das wollen wir dem Buch mal zugestehen. Im übrigen glaube ich, dass Henning Ahrens' Übersetzung wirklich sehr gut ist. Die Fürchterlichkeit muss vom Autor stammen.
Chris Killen kommt zwischen Irmgard Keun und Esther Kinsky.
Rodolphe Töpffer: Die Abenteuer des Herrn Cryptogam
Rodolphe Töpffer lebte von 1799-1846, war Schriftsteller und Zeichner und zu seiner Zeit sehr beliebt. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Dieser – wie nennt man das? sagen wir: diese Bildergeschichte beginnt so.
Herr Cryptogam ist 37 Jahre alt und ein begeisterter Naturfreund. Wenn er einen Schmetterling fängt, spießt er ihn mit einer Nadel an seinen Hut. Abends nimmt er ihn herunter und ordnet ihn in seine Sammlung ein. Sodann begibt er sich ins Bett. Er träumt genießerisch von Gegenden, die mit aufgespießten Schmetterlingen gepflastert sind.
Während Herr Cryptogam in Schmetterlingsträumen schwelgt, träumt Elvira, 38 Jahre alt, genießerisch von einer baldigen Ehe mit dem Auserwählten ihres Herzens.
Der Auserwählte ihres Herzens ist natürlich Herr Cryptogam, und der ist zwar irgendwie mit Elvira verlobt, interessiert sich aber leider überhaupt nicht für sie und versucht dauernd, vor ihr davonzulaufen. Nach Marseille, dann auf ein Schiff, auf dem sie auch auftaucht, dann wird das Schiff von Seeräubern gekapert, es passiert der hanebüchenste Unfug, zwischendurch landet Herr Cryptogam sogar … aber das erzähle ich nicht. Es ist jedenfalls alles sehr grotesk, im besten Sinne des Wortes. Und immer wieder erwischt Elvira ihn doch, mal zufällig, mal absichtlich, und Herr Cryptogam will immer nur weg, kann ihr das aber nicht sagen, sondern schwört ihr dann doch wieder seine Liebe. Zu jedem Satz gibt es ein Bild, das sehr an Wilhelm Busch erinnert, und es ist wirklich, wirklich lustig. 200 Seiten, die hat man in einer halben Stunde durch und hat dabei sehr gelacht.
Kostet leider 29,80 €, aber dafür bekommt man auch 200 in Leinen gebundene Bilder mit herrlichem Text drunter.
Tipp: Klappentext bzw. Rückseite nicht lesen, denn da wird das Ende ausgeplaudert.
Ich weiß noch nicht, ob Töpffer ins nach Größe oder sowas sortierte Comicregal kommt oder zwischen Willem van Toorn und Friedrich Torberg.
Scheiß doch auf die Seemannsromantik!
Ein Tritt dem Trottel, der das erfunden hat.
Niemand ist gern allein mitten im Atlantik.
(Element of Crime)
Mitten in der Nordsee, auf Helgoland nämlich, ist auch niemand gern allein. Helgoland hatte im Laufe seiner Geschichte immer ungefähr 2500 Einwohner. Im Krieg wurde die Insel zerstört, so richtig, kein Stein blieb auf dem anderen, kein Bewohner auf der Insel. Die Engländer versuchten nach dem Krieg erst, die ganze Insel zu sprengen, was nicht gelang (zum Glück – war ja auch eine saublöde Idee), dann diente sie ihnen als Übungsgelände für Bombenabwürfe.
Anfang der 50er Jahre wurde Helgoland dann wieder deutsch und bewohnbar gemacht. Wer es genauer nachlesen will, kann das hier tun, das ist wirklich sehr spannend. Beim Wiederaufbau wurde Wohnraum für ungefähr 2500 Personen geschaffen – eine Person benötigte damals im Bundesdurchschnitt ungefähr 20 qm Wohnraum, ein Feriengast 12 qm. Dieser Wiederaufbau war unglaublich durchdacht. Die Häuser mussten klein sein, weil die Insel klein ist. Man hat nur sehr schmale Gassen angelegt und die Häuser nicht schachbrettartig angeordnet, sondern sie gegeneinander versetzt – zum einen, damit der Wind nicht so durch die Gassen pfeift, sondern immer wieder gebrochen wird, und zum anderen, damit möglichst viele Häuser möglichst viel Sonne und Seeblick haben; man hat ausgerechnet, welchen Winkel die Dachschrägen haben müssen, um den Sonneneinfall optimal zu nutzen, und es tatsächlich geschafft, dass auch Häuser in der vierten oder fünften Reihe noch das Meer sehen können. Und natürlich waren diese Häuser auf dem neusten Stand der Technik und designerisch auf der Höhe der Zeit, mit einer vom Hamburger Künstler Johannes Ufer entworfenen Farbpalette.
Für heute bedeutet das verschiedenes. Erstens steht ein Großteil des Ortes inzwischen unter Denkmalschutz, denn es ist das größte zusammenhängende 50er-Jahre-Ensemble Deutschlands. Was natürlich das ein oder andere Problem mit sich bringt. Zweitens findet ein Teil der Feriengäste das heute scheußlich. Nebenan bei Herrn Buddenbohm schrieb Britta, Helgoland sei „hässlich, aber zauberhaft“. Diese Meinung teile ich zwar nicht, mir gefällt das nämlich, aber ich kann sie irgendwie nachvollziehen. Die Architektur ist sicher nicht jedermanns Geschmack – aber sie ist in sich total überzeugend, und je öfter ich sie sehe, desto besser gefällt sie mir. Eigentlich kann man auch nicht viel dagegen haben; die Farbpalette ist eine ganz klassische, hauptsächlich Primärfarben, rot, blau, gelb, auch orange, grün, die Häuser ansonsten sehr schlicht und gerade, kein Schnickschnack. Es ist halt nur alles sehr eng und klein.
Als geschlossenes Ensemble in diesem Stil ist es einzigartig, jemand nannte es die „Blaue Mauritius der jungen bundesrepublikanischen Architektur“. Jemand anders, nämlich ein Mitreisender bei der letzten Reise, konnte gar nicht mehr aufhören zu betonen, wie scheußlich er das alles finde. Das betraf allerdings nicht nur die Architektur, sondern auch die Spießigkeit, die Gardinen in den Fenstern und die Kunstblumen und die „Zimmer frei“-Schilder, über die er sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Ganz fürchterlich sei das doch!
Nun ja. Weltläufigkeit, Coolness und Mondänität wurden noch nie in Tausend-Seelen-Dörfern geboren.
Und da sind wir beim nächsten Problem: Helgoland hat längst keine 2500 Einwohner mehr. Vor allem die Jungen ziehen weg, und zwar spätestens dann, wenn das erste Kind 12 Jahre alt wird. Dann kommt es auf die weiterführende Schule, und auf Helgoland ist Schluss. Es gibt zwar die James-Krüss-Schule, im Prinzip so etwas wie die „Volksschule“ unserer Eltern, aber wer seine Kinder aufs Gymnasium schicken will, hat nur zwei Möglichkeiten: Internat, oder die ganze Familie zieht aufs Festland. Internat ist heute nicht mehr so beliebt; früher besuchten die Kinder bis zur zehnten Klasse die Inselschule und gingen ggf. erst zur Oberstufe aufs Internat.
Hinzu kommt, dass die Bebauung für 2500 Personen mit einem Platzbedarf von je 20 qm ausgelegt wurde; das reicht heute den wenigsten Leuten. Und so hat Helgoland jetzt offiziell um die 1300 Einwohner, von denen aber nur ungefähr 800 wirklich das ganze Jahr über dort leben. Der Rest hat noch eine Wohnung in Hamburg oder Cuxhaven oder sonstwo und kommt nur zwischendurch auf die Insel. Bauen ist quasi unmöglich, man kann im Prinzip nur ein Haus kaufen, wenn jemand stirbt.
Je mehr Leute wegziehen, desto weniger Chance auf eine genügend große Schule (und auf ein kulturelles Leben, auf Geschäfte etc.) besteht, und desto mehr Leute ziehen ebenfalls weg, vor allem junge. Teufelskreis. Helgoland hat in dieser Situation zwei Möglichkeiten: entweder man lässt alles, wie es ist, dann wird die Insel noch mehr zu einer Art Freilichtmuseum, in dem noch ein paar alte Leute leben, der Rest macht ein Saisongeschäft mit dem Tourismus und wohnt ansonsten auf dem Festland. Wenn man Helgoland allerdings als lebendige Inselgemeinde erhalten möchte, muss eine Lösung her. Beziehungsweise, dann müssen ungefähr 1000 zusätzliche Einwohner her, und die brauchen Platz.
Im Moment scheint es vor allem zwei Pläne zu geben: eine Aufschüttung zwischen Hauptinsel und Düne oder eine Bebauung des Mittellands. Zur Erklärung: Helgoland besteht aus zwei Inseln, der bewohnten Hauptinsel und der vorgelagerten, kleinen, unbewohnten „Düne“. Dazwischen ist, was zwischen Inseln immer ist, nämlich Wasser. Man könnte das aber aufschütten und reichlich Land gewinnen. Diese Idee ist letzten Pressemeldungen zufolge zwar erstmal abgelehnt, aber das heißt nicht, dass nicht doch weiter darüber nachgedacht würde, es gibt da auch verschiedene Möglichkeiten, wie viel Fläche nun genau aufgeschüttet werden könnte, und wo. Eine solche Aufschüttung wäre zunächst mal eine Landgewinnung, einen konkreten Bebauungsplan gibt es dafür anscheinend noch nicht.
Einen Entwurf hingegen gibt es für eine Bebauung des Mittellandes, einen wirklich kühnen Entwurf. Das Mittelland ist der mittelhohe Teil links auf diesem mittelmäßigen Bild.
Der Entwurf sieht vor, das Mittelland mit einem einzigen großen Wohn- und Geschäftskomplex zu bebauen, der fast so hoch werden soll wie das Oberland. Dieser Komplex soll sich an der Küste entlangziehen bis zur Südspitze und auf der anderen Seite wieder zurück, etwa bumerangförmig. In der Mitte soll ein großer Park entstehen, die Außenmauern sollen dasselbe Rot erhalten wie der rote Felsen Helgolands, sodass die Bebauung sich in die natürlichen Gegebenheiten einfügt.
Das sind alles Ideen, Entwürfe, Visionen. Nichts Konkretes, es wird nicht ab übermorgen gebaut. (Ach so, doch, ein neues Dünenrestaurant, aber das ist noch ein anderes Thema.) Mein Kopf sieht das alles ein: dass mehr Leute auf die Insel müssen, die mehr Platz brauchen, und dass dafür etwas Großes passieren muss. Aber emotional ist mir das alles zu groß. Ich finde es schön, mit einem kleinen Boot auf die Düne überzusetzen und wieder zurück. Ich finde es schön, dass doch vergleichsweise große Teile der Insel unbebaut sind. Beide Projekte würden das Gesicht Helgolands enorm verändern. Ich will das nicht, ich mag das nicht, meinetwegen soll Helgoland so puppenstubig bleiben, wie es ist. Aber ich selbst würde auch nicht in einer Puppenstube leben wollen, ich würde nicht auf 20 Quadratmetern auf einer 1000-Seelen-Insel leben wollen. Aber.
Gut, dass ich nichts zu sagen habe. Ich kann mich dann – egal, was passiert – hinterher aufregen und alles ganz fürchterlich finden. Und in zwanzig oder vierzig Jahren vielleicht die kühnen Visionäre bewundern, die so große Projekte erst möglich machen und auf den Weg bringen, und die vielleicht immer etwas zu große Entwürfe vorlegen müssen, damit dann ein etwas kleinerer umgesetzt wird.
Ein Schritt nur, vor uns ist die See, dahinter liegt New York.
1. Im Literaturhaus München fand letztes Wochenende eine Tagung zum Thema Übersetzungskritik statt - mit Literaturkritikern, Übersetzern und Lektoren, es muss hochinteressant gewesen sein, ich gräme mich ein bisschen, dass ich nicht einfach hingefahren bin. Andreas Breitenstein war da und berichtet in der NZZ.
2. Helge Malchow, Verleger von Kiepenheuer und Witsch, wird sechzig. Das wird gefeiert, alle KiWi-Autoren sind eingeladen. (Und ich überlege seit Stunden, ob ich "Die Übersetzer hingegen erfahren es aus der Presse" anfügen soll. Manchmal nicht so einfach, nicht schnippisch zu werden.)
Jedenfalls hat ihn die Welt aus diesem Anlass interviewt, man kann das Interview hier nachlesen.
Für das Dressing:
100 ml Olivenöl
100 ml Weißweinessig
Salz
Pfeffer
einige Spritzer Tabasco
3 EL Zucker
2 TL Senf
200 ml Sahne
2 Eigelb
Kohl und Möhren in der Küchenmaschine schreddern. (Man kann auch noch einen Apfel dazugeben.)
Für das Dressing vorsichtig das Olivenöl erhitzen. Pfeffer, Salz, Senf, Tabasco, Essig, Zucker dazugeben und rühren, bis der Zucker aufgelöst ist.
Sahne und Eigelb verklappern und zu der warmen Essig-Öl-Mischung geben. Bei geringer Wärmezufuhr rühren, bis die Soße andickt. Warm über den Kohl geben, ordentlich durchmischen und mindestens zwei Stunden im Kühlschrank durchziehen lassen. Nach Belieben nachsalzen und –pfeffern.
Superlecker zu Pellkartoffeln oder zum Grillen. Oder auf Brot. Oder pur.
(Anmerkung: Im Rezept steht ein kleiner Kopf Weißkohl und die halbe Menge Dressing. Ich hatte einen halben großen Kopf und das Dressing war viel zu wenig. Beim nächsten Mal habe ich die doppelte Menge Dressing gemacht, wie hier angegeben, das war viel, aber nicht zu viel.)
… um 19.30 Uhr berichtet das Hamburg-Journal im NDR-Fernsehen über Maximilian Buddenbohm. Er hat hier und hier über die Dreharbeiten berichtet. Müsst Ihr natürlich alle gucken, ich kann nicht, ich geh steppen.